Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Nachklapp.

Na klar ist es traurig. Und du machst dir auch noch Gedanken. Das macht es trauriger. Aber gleichzeitig hat es schon längst nichts mehr mit dir zu tun. Es hat mit mir zu tun.

Es ist, wie so vieles was hauptsächlich Zeit braucht, eine Einsichtssache. Es ist eine Verschiebung, eine Positions- aber auch eine Formänderung dessen, was ursprünglich mal im Mittelpunkt stand. Es verunsichert mich. Ich rede mit Freunden drüber, mehr im Vorbeigehen als alles andere. Höre ihnen stattdessen bewusster zu, will wissen wie es ihnen geht. Ich möchte die Dinge plötzlich anders sagen, kann und will gar nicht so sein, wie ich noch vor ein paar Tagen war. Der Grund ist so einfach wie armseelig, so naheliegend wie untypisch, so ganz klar ich. Du sagtest etwas am Rande - ganz so wie ich jetzt mit anderen darüber zu reden versuche. Vielleicht sagtest du "Körperlichkeit", der Wortlaut war nachrangig. Die daraus resultierende Wärme fühlte sich an, als wären mir sämtliche Adern im Körper auf einmal geplatzt. Ich ging anschließend ins Kino, um auf andere Gedanken zu kommen. Allein. Aber auch hier: Körperlichkeit, bzw. das Fehlen dieser. Der Film zeigte den Unterschied zwischen Kommunikation in der Echtwelt und der Kommunikation im Netz. Wie letztere erstere nicht vollständig simulieren kann. Wie es stehts Hoffen und Wünschen bleibt, wenn die Dinge im Netz oder ausschließlich in der Sprache bleiben. Liebe, Körperlichkeit, Zärtlichkeit, Intimität, usw., all das bleibt lediglich eine mögliche Zukunft, eine Hoffnung. Man kann nur in den Räumen, die wir für unsere Körper errichtet haben, diese Zukunft einlösen. Ich kann meine Hoffnungen nicht sprachlich erfüllt sehen. Eigentlich mochte ich es, mich als einen Menschen der Sprache zu verstehen. Ich höre zu, lese, rede und schreibe ja auch hauptsächlich. Zu erkennen, dass Sprache die mir fehlende Körperlichkeit nicht ersetzen kann, ja, meine individuelle Sprache nicht einmal als Brücke hin zu einer Körperlichkeit taugt, war ein schwerer aber lehrreicher Schlag. Es ist traurig, erklärt mir aber auch, warum es wohl in der Vergangenheit nur so selten funktionierte. Das erkannt zu haben, schürt in mir eine neue Hoffnung, öffnet den Weg zu einer neuen möglichen Zukunft, die nach so langer Zeit endlich mal auf anderer Ebene eingelöst werden will.

Die Gedanken des Spaziergängers

Er verlässt das Wohnhaus immer in Richtung Nordosten, geht an seinem Bäcker vorbei und läuft dann rechts die Straße entlang, bis er zu einer T-Kreuzung kommt. Dort biegt er wiederum rechts ab und dieses Geradeaus-und-dann-rechts-laufen führt dazu, dass er eine mehr oder weniger große Runde um und durch sein Viertel macht. Der Spaziergänger geht immer allein, er sieht nur selten wirklich in die Welt, ist eher in sich selbst unterwegs. Der Spaziergänger führt keine Gespräche, grüßt nicht und hat den Kragen hochgeschlagen. Er ignoriert und möchte ignoriert werden. Er denkt nach. Manchmal sieht man ihn lautlos die eine oder andere Formulierung, einen Gedanken wendend zu sich selbst sprechen. Es kommt auch vor, wenn auch selten, dass er ein Wort oder eine Wortgruppe laut ausspricht, er sagt dann "…die Frage ist…" oder "Genau!". Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, dass er zuweilen mit den Händen in den Taschen gestikuliert, die Finger für Aufzählungen verwendet, seinen Gedanken Nachdruck verleiht. Gegen wen er argumentiert und für was er streitet wird nie wirklich klar. Manchmal bleibt er abrupt stehen. Dann schaut er in den Himmel oder etwas wild und verwirrt die Straße entlang, als wäre er gerade aus einer Schlafwandelei erwacht. Nach einem kurzen Innehalten, vermutlich orientiert er sich nur neu, setzt er dann seinen Weg fort. Manchmal denke ich, dass er nicht nur über ein Thema nachdenkt, dann denke ich, dass es ein übergeordnetes Thema geben muss, dass ihn aus der Wohnung treibt. Seine Spaziergänge können bis zu zwei Stunden dauern.

Der Spaziergänger hält die Entfernung zu seinem Vordermann. Man bekommt das Gefühl, dass er und sein Vordermann sich abgesprochen hätten um gemeinsam im respektvollen Abstand zueinander die Straßen des Viertels abzuschreiten. Die Symbiose ist beeindruckend. Bleibt der Vordermann stehen, wartet der Spaziergänger wie zufällig ebenfalls, schaut in ein Schaufenster, oder auf seine Uhr. Ob er seinem Vordermann etwas Böses will? Da beide im gleichen Aufgang wohnen und die Häuser unserer Straße alte, knarzende Holztreppen haben, ist meine Vermutung, dass der Spaziergänger ab einer bestimmten Zeit auf das Poltern des Vordermanns wartet, bevor er dann ebenfalls das Haus verlässt. Mir ist nicht klar, warum der Spaziergänger seinen Vordermann ständig verfolgt, aber ich werde es herausfinden. Seine Spaziergänge können bis zu zwei Stunden dauern. Sie dauern immer nur so lange, wie die seines Vordermanns.

Wenn man hier aus dem Fenster schaut, dann kann man Abends Zeugin eines außergewöhnlichen Schauspiels werden: Mein Mann, der Autor, geht sehr gerne spazieren. Er sagt, dass ihm die frisch Luft gut tut und er seine Gedanken im Selbstgespräch am besten ordnen kann. Er ist dann auch schon mal zwei Stunden weg. Jedenfalls schaue ich oft aus dem Fenster um meinen Mann das Haus verlassen zu sehen. Als wäre es choreographiert, verlässt kurz darauf eine Gruppe von Männern ihre Wohnhäuser ebenfalls und läuft nacheinander stets den gleichen Weg durch unser Viertel den auch mein Mann einschlägt. Ich weiß das, weil ich ihnen jetzt regelmäßig folge um herauszufinden was hier geschieht. Sie halten dabei gehörig Abstand zueinander und zu ihm. Es ist, als wollten sie, dass die Bewohner unseres Viertels nicht mitbekommen, dass es sich offenbar nicht um unabhängig spazierende Herren handelt. Fast jeden Tag, wenn mein Mann zu seinem Spaziergang aufbricht ist dieses Schauspiel zu beobachten. Meinem Mann wurde noch nie etwas getan und die Herren scheinen sich tatsächlich nicht zu kennen. Nach dem Spaziergang meines Mannes beenden sie ebenfalls ihre Spaziergänge und gehen, einer nach dem anderen zurück in ihre Wohnungen. Sie sprechen nicht miteinander, jedenfalls nicht auf der Straße. Ich weiß nicht was ich davon halten soll. Hier geht doch offenbar etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Wie sieht's aus in Jena?

Es läuft gut, wenn man von den impraktikablen Idiosynkrasien von dir absieht. Du bist eher müde, hast keinen Platz in diesem Schädel für Animositäten. Was für ein herrliches Wort. Es geht um Wissenschaftsgeschichte. Es geht ums Scheitern. Du denkst, dass du das kennst. Nicht das hier, hier sein ist Gewinn, aber hier sein als Du ist scheitern. Du hörst ein Stichwort und hast intuitiv eine ablehnende Reaktion: Habermas. Warum eigentlich? Jena ist um dich, es gibt keinen Grund für diese unbesiegbare Melancholie. Als du heute morgen in dem ein wenig nach feuchter Wäsche riechenden Raum auf dem Ecksofa deiner Unterkunft wach wurdest, hattest du nicht damit gerechnet, dass rationaler Diskurs gefordert werden würde. Und handeln. Und du musst an die "Encyclopaedia of received Ideas" denken. Du musst denken, dass das alles was du als Begründung für deine Reaktion hervorzubringen weißt Vorurteile sind. Es ist wie der Nebel, der vor deinem Fenster heute morgen die Beschaulichkeit, gebaut aus Geld, die Jena ist, versteckte. Eine historische Figur hat Fehler gemacht, heißt es. Es geht um die Lehre, um alte Testamente. In der Vorstellungsrunde warst du erstaunlich ruhig, du konntest dich vor-stellen, vor den, der hier laufend nicht wusste, ob er passen würde, ohne dabei Gegner spielen zu müssen.


Der Raum hallt. Du fragst wie und in welcher Freiheit die Leute um dich eigentlich hier sind. Die Leute neben dir sind mit dir aus Berlin angereist, du kennst sie, glaubst du, aber kennen sie dich? Und wer entscheidet darüber? Neben dir auf der anderen Seite sitzt der einzige Naturwissenschaftler in der Runde. Du hast ihn gestern ganz schön angemacht. Warum?


Warum bist du eigentlich in Jena? Das ist schwieriger zu beantworten als du denkst. Die einfache Antwort ist, dass du deine erste wissenschaftshistorische Tagung besuchst. Warum? Die Leute neben dir haben dich mitgenommen, sie fragten dich und du sagtest ja. Warum? Weil du gerne Wissenschaftshistoriker wärst und dazu gehört auch, dass du Tagungen besuchst und eine Tagungsidentität entwickelst. Warum? Weil du Angst hast, dass du sonst nichts mehr wirst. Du glaubst, dir liegt das Denken zwischen historischen und philosophischen Kategorien. Vielleicht kannst du deine Hoffnung auch einfach nur nicht rational hinterfragen. Warum? Because some things are and others are not? Du willst weg von dort wo du herkommst. Du willst irgendjemand anderer sein. Du willst dir später vorstellen können, dass die Episode deines Lebens, die dich jetzt hoffen lässt irgendwann ein anderer zu sein, nur eben eine solche war. Und die Phase in der du jetzt steckst auch. Blind läufst du vorwärts durch die Zeit. Du bist keiner der Engel der Geschichte, du schaust stets über deine Schulter. Weil wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt um in der Zukunft jemand anderes zu sein, vergisst, dass Voraussagen selbst mit aller Empirie der Geschichte nicht möglich sind.


Noch ein Vortrag. Der Naturwissenschaftler stellt sein persönliches Scheitern vor. Und plötzlich: Sympathie! Warum auch immer. Vielleicht liegt es, wie immer, dann doch auch an dir. Viele Lebenseinstellungsheurestiken. Serendipity = serene (heiter) + pity (pech). Und dann ist das Problem lediglich unterschiedliche Kulturen.


Du willst ihr erklären, dass sie es falsch macht. Du willst ihr sagen, dass du ihr seit Anfang nicht folgst. Aber vielleicht solltest du deswegen besonders vorsichtig sein. Deine Frage ist eigentlich eine Frage an dich und weniger an sie: Wie würdest du die Definition verbessern? Wie passen fest im Jetzt verankerte Begriffskonzepte, Wissensformationen, mit dem Anspruch historisch aussagekräftig zu sein, zusammen?


Und so weiter. Du kommst abgekämpft nach Hause, hast abgebrochen, bist eingeknickt, nachher war sogar lächeln schwer. Der Rest zog weiter in ein Restaurant. "Lecker Abendessen und Bier." Du wolltest nur eine Tür, die du hinter dir schließen kannst, du wolltest umgeben sein von einem Raum, der nur dir gehört. Die Freiheit in deiner Klosterzelle. Stattdessen sitzt du im Durchgangsraum, deiner Schlafgelegenheit, hast deine Kopfhörer auf und versuchst abwesend zu wirken. Du wolltest noch lesen. Aber du hast ja nicht mal mehr die Kraft dafür die Augen zuzulassen. Du lächelst trotzdem, wenn dir Leute kurz im Vorbeigehen zunicken. So viel Kraft muss sein.


Den nächsten Tag verschläfst du. Mehr oder weniger absichtlich. Es sind erst zwei Tage um und du brauchst diesen halben Tag, den du dann aber doch nur in den Schlafsack eingerollt verbringst. Den Nebel beim Verschwinden beobachtend. Noch zwei weitere Tage. Du gehst in die Bibliothek und liest und schreibst bis es heute Abend weiter geht. Angewohnheiten bieten Sicherheit. Du fühlst dich überfordert von der Situation. Es ist zwar nicht schön - aber unheimlich interessant.

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