Die Gedanken des Spaziergängers
Er verlässt das Wohnhaus immer in Richtung Nordosten, geht an seinem Bäcker vorbei und läuft dann rechts die Straße entlang, bis er zu einer T-Kreuzung kommt. Dort biegt er wiederum rechts ab und dieses Geradeaus-und-dann-rechts-laufen führt dazu, dass er eine mehr oder weniger große Runde um und durch sein Viertel macht. Der Spaziergänger geht immer allein, er sieht nur selten wirklich in die Welt, ist eher in sich selbst unterwegs. Der Spaziergänger führt keine Gespräche, grüßt nicht und hat den Kragen hochgeschlagen. Er ignoriert und möchte ignoriert werden. Er denkt nach. Manchmal sieht man ihn lautlos die eine oder andere Formulierung, einen Gedanken wendend zu sich selbst sprechen. Es kommt auch vor, wenn auch selten, dass er ein Wort oder eine Wortgruppe laut ausspricht, er sagt dann "…die Frage ist…" oder "Genau!". Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, dass er zuweilen mit den Händen in den Taschen gestikuliert, die Finger für Aufzählungen verwendet, seinen Gedanken Nachdruck verleiht. Gegen wen er argumentiert und für was er streitet wird nie wirklich klar. Manchmal bleibt er abrupt stehen. Dann schaut er in den Himmel oder etwas wild und verwirrt die Straße entlang, als wäre er gerade aus einer Schlafwandelei erwacht. Nach einem kurzen Innehalten, vermutlich orientiert er sich nur neu, setzt er dann seinen Weg fort. Manchmal denke ich, dass er nicht nur über ein Thema nachdenkt, dann denke ich, dass es ein übergeordnetes Thema geben muss, dass ihn aus der Wohnung treibt. Seine Spaziergänge können bis zu zwei Stunden dauern.
Der Spaziergänger hält die Entfernung zu seinem Vordermann. Man bekommt das Gefühl, dass er und sein Vordermann sich abgesprochen hätten um gemeinsam im respektvollen Abstand zueinander die Straßen des Viertels abzuschreiten. Die Symbiose ist beeindruckend. Bleibt der Vordermann stehen, wartet der Spaziergänger wie zufällig ebenfalls, schaut in ein Schaufenster, oder auf seine Uhr. Ob er seinem Vordermann etwas Böses will? Da beide im gleichen Aufgang wohnen und die Häuser unserer Straße alte, knarzende Holztreppen haben, ist meine Vermutung, dass der Spaziergänger ab einer bestimmten Zeit auf das Poltern des Vordermanns wartet, bevor er dann ebenfalls das Haus verlässt. Mir ist nicht klar, warum der Spaziergänger seinen Vordermann ständig verfolgt, aber ich werde es herausfinden. Seine Spaziergänge können bis zu zwei Stunden dauern. Sie dauern immer nur so lange, wie die seines Vordermanns.
Wenn man hier aus dem Fenster schaut, dann kann man Abends Zeugin eines außergewöhnlichen Schauspiels werden: Mein Mann, der Autor, geht sehr gerne spazieren. Er sagt, dass ihm die frisch Luft gut tut und er seine Gedanken im Selbstgespräch am besten ordnen kann. Er ist dann auch schon mal zwei Stunden weg. Jedenfalls schaue ich oft aus dem Fenster um meinen Mann das Haus verlassen zu sehen. Als wäre es choreographiert, verlässt kurz darauf eine Gruppe von Männern ihre Wohnhäuser ebenfalls und läuft nacheinander stets den gleichen Weg durch unser Viertel den auch mein Mann einschlägt. Ich weiß das, weil ich ihnen jetzt regelmäßig folge um herauszufinden was hier geschieht. Sie halten dabei gehörig Abstand zueinander und zu ihm. Es ist, als wollten sie, dass die Bewohner unseres Viertels nicht mitbekommen, dass es sich offenbar nicht um unabhängig spazierende Herren handelt. Fast jeden Tag, wenn mein Mann zu seinem Spaziergang aufbricht ist dieses Schauspiel zu beobachten. Meinem Mann wurde noch nie etwas getan und die Herren scheinen sich tatsächlich nicht zu kennen. Nach dem Spaziergang meines Mannes beenden sie ebenfalls ihre Spaziergänge und gehen, einer nach dem anderen zurück in ihre Wohnungen. Sie sprechen nicht miteinander, jedenfalls nicht auf der Straße. Ich weiß nicht was ich davon halten soll. Hier geht doch offenbar etwas nicht mit rechten Dingen zu.