Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Mitte-Außen

Ich sitze in der Mitte von mir. Ich sitze aber auch in der Mitte von Berlin. Ich sitze in einem Hinterhof an meinem Schreibtisch von dem aus der Blick auf eine im Innenhof stehende Kastanie fällt. In Gedanken transformiere ich die Kastanie, mache sie zu einer Eiche und verpflanze sie in meine Vergangenheit, gegenüber dem Haus meiner Großeltern auf die riesige brachliegende Fläche, am Bahndamm. Ich nennen die Kastanie, die jetzt wieder eine Eiche ist unseren Kletterbaum. Viel Zeit habe ich dort verbracht als Kind, mit meinen Cousins und Cousinen. Weit hinauf konnte man klettern, die brache Landschaft bis zum Bahndamm sehen. Es wäre gelogen, wenn ich sagte, dass man die Mitte der Stadt von dort sehen konnte, man konnte es nicht, aber man konnte es sich vorstellen.

Meine Familie ist eine Familie der Grenze. In Teltow, dort wo unser Kletterbaum stand, zerfiel die Welt entzwei, in Ost und West, in erlaubt und verboten, in anseh- und unsichtbar. Doch die Welt zerfiel nicht vor den Augen von uns Kindern. Sie war schon zerfallen und was wir sahen - den passierten Zerfall - war nicht mal mehr ein Nachbeben. Es war die Stille nach dem Nachbeben. Es war der agnostische Moment in dem man immer noch nicht so richtig glauben konnte, dass es wirklich vorbei war. Die Entzweiung selbst war dekonstruiert und trotzdem noch in der Welt. Sie zeigte ihre geisterhafte Handlungsmacht in fast jeder Äußerung, in den Bewegungen der gesamten Familie und in ihren einzelnen Gliedern. Sie stellte ganz offen infrage, was diese Familie als ihre Tradition erlebt hatte: Es ist richtig, dass es ein "Da" gibt, es ist richtig, dass es dort anders ist, aber es ist auch richtig, dass es ein "Hier" gibt, dass dieses "Hier" uns etwas gibt, was uns hier hält, dass es uns gehört, dass wir sind, eine Herkunft, eine - neue, wohlgemerkt - Heimat, ein Platz in der Welt, der wenn schon nicht Mitte, dann doch zumindest unsere relative Mitte ist. Ein Schubfach, in dem wir sind. Darin enthalten: Die fast schon zwangsläufige Gegenbewegung, gegen das Andere, den Westen. Wie beim Tauziehen; wer den Standpunkt verliert, fällt, verbrennt sich schon bald die Finger am vorbeireißenden Seil. Nur war es aus der Perspektive von uns Kindern schon längst geschehen.

Der ganze Ort war schon längst im Fallen begriffen, als alle noch glaubten, man würde einfach weiterziehen können, man würde das Seil den jüngeren übergeben, wenn man selbst zu alt war, zu alkoholkrank, wenn man eher im Weg stand - wenn man das dann noch entscheiden konnte. Wir Kinder wurden dadurch entzweit. Entzweit durch eine Entzweiung, die wir nur ihrer Stille nach kannten, weil wir sie lediglich als Danach erlebt hatten und kennen lernen konnten. Wir konnten nur von dem was fehlte ausgehend uns entscheiden. Wir mussten Fragen stellen, Zuordnungen machen, die sich nicht auf eigene Erfahrungen stützten, es waren Erfahrungen zweiten Grades: Wir fragten unsere Eltern wie es damals Hier und Drüben war. Wir fragten, wie sie es empfanden, was sie getan hatten, was sie nicht getan hatten. Wir fragten: Warum? Wir fragten, was wir tun sollten. Vor uns - räumlich wie zeitlich - waren unsere Eltern, Großeltern, Onkels und Tanten entzwei gebrochen, in sich, wie zwischen sich. Die Entzweiung war in der Welt und doch vorbei.

Und so entschieden wir uns. Wir entschieden uns den Standpunkt zu halten, oder ihn zu verändern. Wir entschieden uns Kontakte abzubrechen. Wir entschieden uns, uns nie wieder oder ständig mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und gleichzeitig entschieden wir nie, wir waren entschieden worden. Uns wurde entschieden. Der Kletterbaum transformierte sich. Bald waren es andere Bäume, andere Dinge, die an den Wochenenden eine Rolle spielten, bald Mopeds, Comics, Bücher, Computer, Videospiele. Der Baum, der in einer schon entzweiten Welt eine Art Einheit symbolisiert hatte, wurde zu einem Symbol der Entzweiung, wurde schließlich zum Symbol der Enteinzelung.

Ich? Ich war bald Teil einer anders strukturierten Familie. Entzweiung. Schließlich Teil einer überhaupt nicht mehr als Familie zu begreifenden Struktur. Enteinzelung. Ich war plötzlich Teil der Gruppe "nicht wirklich von hier", ich kam von "dort". Entzweiung. Irgendwann kam ich nicht einmal mehr von dort. Enteinzelung.

Ich zerfiel irgendwann, in mir. Unfähig zu entscheiden, unfähig nicht zu entscheiden. Unfähig zur Äußerung, unfähig mich nicht ständig zu äußern. Unfähig zu lieben, unfähig geliebt zu werden. Mein emotionales wie mein vernünftiges Leben nahmen eigene Wege in mir, explodierten schließlich kaskadierend, bildeten Metastasen, überlagerten sich, blühten auf. Doch stets alles in mir.

Die Stille nach dem Nachhall der Enteinzelung, ist nur durch die Stille nach dem Nachhall der Entzweiung zu erklären.

Mein Tier

Ich kann im Spiegel das Tier sehen. Neuerdings. Die gesamte Wucht des Anderen zerquetscht mein Gehirn. Das hier ist kein Gefäß, das hier ist ich. Jeder Finger, jedes Zwinkern, jedes den-Kopf-zur-Seite-Drehen-und-Einatmen. Ich bin kein Text. Auch nicht dieser.

Die letzten Tage und Wochen ergebe ich immer weniger Sinn. Ich beschmutze mich, mit Worten, Taten, aber auch mit Nichtstun. Ich liege lethargisch auf meinem Bett, kann nicht schlafen, nicht aufstehen, nicht nichts tun. Meine Obsession brennt mir ein Loch in den Schädel und mein Verlangen reißt mir fast den Schwanz aus. Das ist neu.

Von außen: Same same. Ich komme zu spät, habe Probleme, bleibe nett. Bleibe ich aber auch alles andere? Was passiert mit mir? Und warum gerade jetzt? Es ist, als wollte mich das Leben spalten.

Noch anders

Der Raum ist braun und leer. Das heißt, nicht leer ist er, er wirkt so. Er ist zu groß für das was drin ist. Vorne steht F und redet, findet er wichtig. Die meisten, so auch ich, hören mehr mit einem halben Ohr hin. Komische Formulierung - Was ist ein halbes Ohr? Welche Hälfte? - aber es ist wahr.

Neben F und mir sind noch gut zwei Hände voll Andere halb anwesend. Aber sie schweben fast alle in ihren Körpern. Als wären ihre Gehirne das Helium, was es ihren Köpfen ermöglicht sich über ihren Körper zu erheben.

Gemurmel im Hintergrund. Sie reden leise miteinander, das nervige Geräusch von Zwischenmenschlichkeit für all die Heliumballons zwischen den Murmelern. Aber auch die Heliumballons hören oft gemeinsam zu, teilen miteinander - und können das wahrscheinlich jede für sich sogar besser als ich. Zynismus.

So geht die Vorlesung im viel zu großen Saal langsam vorbei. Ja, auch ich stelle mir ab und zu vor, wie es wohl wäre. Selber vortragen. Ich wäre enttäuscht. Ich würde vielleicht auch einen kleineren Raum gebucht haben als F.

In der U-Bahn, auf dem Weg hierher, dachte ich noch, dass es ganz normal sei mehr zu schreiben, als man selbst je lesen würde. Warum ist es dann nicht auch normal, mehr zu sagen, als man selbst je zuhören kann? Vielleicht besteht kein Unterschied. Dass man die Einsamkeit sehen kann, macht sie nicht kleiner.

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