Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Wenn es endlich vorbei ist

Du kannst es noch nicht sehen. Du kannst die andere Seite der Medaille aber schon spüren. Es ist als wenn du diese Medaille tatsächlich in Händen halten könntest, die eine Seite siehst du und die andere erspürst du mit deinen Fingerspitzen. Du stellst immer noch die gleichen Überlegungen an, du bewegst dich in den gleichen Mustern, aber irgendwas ist plötzlich anders. Du merkst, dass es Vergangenheit ist. Und ein bisschen hältst du an dieser Vergangenheit auch deswegen fest, weil sie seit langen Jahren zu dir gehört. Sie ist deine Wirklichkeit gewesen und sie jetzt auf den Kopf zu drehen, macht dich unruhig, weil du kaum fassen kannst, dass sich wirklich etwas geändert zu haben scheint.

Du bist soweit du es beurteilen kannst jetzt ein anderer. Weil der Abstand zu dem was geschehen ist groß genug ist. Weil du nicht mehr glauben kannst, dass diese Dinge niemals weggehen werden. Du wirst dich an sie erinnern, aber mehr im Sinne des alten Spruchs, dass man wenn man sich erinnert sich immer nur daran erinnert, wann und wie man sich das letzte Mal erinnert hat und nicht an das, an was man sich glaubt zu erinnern. Das heißt einerseits, dass deine Vergangenheit historisch geworden ist und du sie damit tatsächlich irgendwie abgelegt hast und andererseits, dass deine Zukunft nicht mehr absehbar ist, weil sich in dir gerade eine kleine Revolution abspielt, die das was du glaubtest über dich und die Welt zu wissen radikal in Frage stellt.

Du bist im Begriff dein altes Ich zu verdrängen. Der schönste Paradigmenwechsel, den du dir vorstellen kannst.

Kräuseln

"Es beginnt immer an den Rändern."

Davon. Du siehst ab. Und ich auch. Meine Unfähigkeit zur echten Welt, die Lust am Denken, geboren aus Unzulänglichkeiten, aus allem was eigentlich anders herum sein sollte. Die Welt, gestaltet aus Gedanken in denen wir glaubten Realität vermuten zu dürfen, zerstreut sich in wenigen Splittern unscheinbarer und uns um so wichtigerer Vorstellungen von irgendwas auf das wir uns nicht einigen können.

Eine Handvoll Gedankenabfall zur Erwärmung des falschen Organs. Ich habe gehört, wenn ein Mensch droht zu erfrieren, dann ist es wie morgens um halb sechs in denen man sich dann doch noch mal fünf Minuten gönnt, bevor es weitergeht. Und dann stirbt man. Und deswegen stehe ich auf, jeden morgen mit dem Eisklotz in der Brust und dann gehe ich denken und dann gehe ich angeben vor und mit anderen und auch du gehst, nehme ich an.

Ich trinke meine blöden Tees und schaue aus dem Fenster und sehe nur, wie sich alles in mir danach verzehrt das etwas anders ist, in mir, an dir. Uns. Aber uns gibt es nicht. Die Brenneigenschaften einer Photografie sind immer wieder bemerkenswert. Kräuselnd dematerialisiert sich eine Vergangenheit und wird ersetzt durch eine andere, konstruierte. Es beginnt immer an den Rändern. Was bleibt ist das Gegenteil von dem was ich wollte.

Es ist ein einsamer Platz, hier an der Feuerstelle.

Mein Gedankengebäude

Ich habe ein Gebäude in meinem Kopf.

Man Betritt das Gebäude durch mein Sprechen. Es tut mir leid, wenn es schwierig ist, sich durch diesen lauwarmen harten Strahl aus Sprache zu quälen. Der Eingang ist einerseits gemacht wie die Öffnung eines Gartenschlauchs und andererseits aber eher wie eine Schiebetür, das heißt wegstoßend je näher man kommt und nur selbstbestimmend öffnend zur selben Zeit. Wenn ich es nicht erkläre ist der Zugang nicht nur nicht offen, sondern auch nicht da.

Ist man jedoch erstmal drinnen, sieht man schon die Geschäftigkeit allenthalben. Man findet sich in der kugelförmigen Ambivalenz-Galerie wieder, die einem gleichzeitig immer alles zeigt. Ich gebe ein wenig Orientierung:

Hier entsteht das maschinenlesbare Universum, als iteratives Modell der Wirklichkeit, das die Realität auflöst und dessen Rahmenbedingungen noch unbekannt sind, das aber wenn es fertig ist Dimensionen und Zeit simulieren kann und diese damit ebenfalls auflöst.

Und hier werden Ideen zu einem Versuch einer Theologie des Netzes in der es als Überindividuum auftritt gehortet, dass uns Ersatzsinn und Unendlichkeit und damit Unsterblichkeit gibt. Das Überindividuum selbst lebt gleichzeitig in- und außerhalb des Gedankengebäudes, es webt Fäden zu Schemen, an denen das Gebäude in unendlicher Höhe und Tiefe über und unter allem schwebt, wabert. Ist.

Es gibt hier auch ein paar andere Fäden zwischen all den wunderbaren Orten, die sich bei näherem Hinsehen als Ticker Tapes herausstellen, die wie Girlanden quer durch alle Räume gehen und linear erklären, was eigentlich doch Architektur und begehbar ist. Du liest gerade eines dieser Bänder, dass in gleichmäßigem Tempo seine Geschichte über die Reise durch diesen Raum ändert, wenn sich der Raum oder seine Bedeutung oder seine Ausstattung ebenfalls verändert. Die Ticker Tapes sind damit irgendwie die einzigen Konstanten im Ganzen und doch veränderlich. Wo sie anfangen oder enden ist nicht ersichtlich, sie verschwinden in den Ritzen der Wände oder zu einem offenbar unentwirrbarem Knäuel von dem man nicht sagen kann was hier zusammengehört und was nicht, oder führen in abgedunkelte Räume, die nicht mehr, noch nicht jetzt oder nie zugänglich sein werden. Wir werden sehen, oder auch nicht.

In den vielen Dachgeschossen sind linkseitig die Labore des Scheiterns untergebracht. Hier werden absichtlich Zukünfte entworfen, die Scheitern müssen damit rechtsseitig aus deren Asche, denn auf der linken Seite zischt und explodiert es ständig, Gedankenheuristiken entworfen werden können, die ihrerseits keine Wahrheiten, sondern absichtliche, optimierte Missverständnisse über die Wahrheit sind.

Die Bibliothek existiert einerseits im gelben Fleck und gleichzeitig im blinden Fleck und ist damit immer zugänglich und steht immer im Weg und ist auch nie greifbar. Das ist der Grund, warum ich die Augen zuweilen geschlossen lasse.

Mich führt dann das Gefühl. Etwa in den winzigen Alkoven, dessen Wände aus knarzendem und durftendem Holz, Papier, Musik, Sprache und Stille bestehen. Hier habe ich sehr oft alles was ich wirklich brauche, wenn ich allein sein will.

Oder aber ich lasse mich über einen der vielen Laubengänge in meinen Garten führen und sehe meinen immer etwas einschüchternden, melancholischen, aufgewühlten Gedankenbruch, in dem ich nach all diesen Sachen grabe, die ich hier als meine ausgebe.

Es gibt noch so viel mehr zu inventarisieren, ich fange immer wieder von vorne an. Geflissentlich. Weil ich mir selbst in dieser Hinsicht verpflichtet bin. Es gibt glücklicherweise ein Fragamt im Erdgeschoss, dass aber nur Auskünfte auf konkrete Fragen geben kann, keine Systematiken oder gar strukturelle Zusammenhänge anbietet. Es ist nett dort, für meine Begriffe irgendwie fast ordentlich und wenig riskant. Zugegeben, es ist hermeneutisch verknallt in mich. Ich bin gerne dort und schäme mich manchmal ein wenig dafür, aber eigentlich ist es okay, auch wenn ich glaube, dass es ein Fremdkörper ist.

Tut mir leid, dass hier der kleine Rundgang schon enden muss. Mehr Zeit habe ich im Augenblick nicht. Große Teile des Gedankengebäudes sind ohnehin gerade unbewohnbar, eingesponnen, abgehangen. Das ist normal, ich kann jedenfalls nicht überall gleichzeitig sein.

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