Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Hurgharda ist nicht Tel Aviv

Ich habe seit über 24 Stunden nicht geschlafen und muss trotzdem versuchen weiterhin wachzubleiben. Deshalb starre ich von meinem Balkon am äußersten Ende des Hotelkomplexes auf das aquamarinblaue Wasser und versuche an irgendetwas anderes zu denken als an mein Bett, was sich keine drei Meter entfernt befindet und mit unsichtbaren Fingern nach mir zu greifen scheint. “Aquamarinblaues Wasser”. Was für eine blöde Formulierung. Da steckt zweimal Wasser drin, jedenfalls sozusagen. Wer auch immer das Wort “aquamarin” erdachte, hat wohl nicht damit gerechnet, dass man die Farbe von Wasser mit diesem Adjektiv beschreiben wollen würde. Es muss sich also schon um einen ignoranten Idioten gehandelt haben, schließe ich. Vom Zentrum des kapitalistischen Höllenschlunds “Sunny Days El Palacio Resort & Spa”, in dem ich für 11 Tage einen “All-Inclusive”-Urlaub gebucht habe, plärrt “My Heart Will Go On” von Celine Dion. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt, vor einem Jahr.


Vor einem Jahr hatte ich mir nämlich noch gar nichts vorgestellt. Vor einem Jahr saß ich mit einem Sternburg im Kopf und einem weiteren in der Hand leicht angeschwipst vor der Universitätsbibliothek und wartete darauf, dass meine Freunde aus ebenjener kamen und wir uns endlich abschießen konnten. Ich hatte das gut antizipiert, wie ich im Nachhinein feststelle, denn so kam es. Aus Sternburg wurde Schultheiß und aus Schultheiß wurde im Verlauf des Abends Schultheiß und Jägermeister. Unsere Gespräche wurden lauter, die Themen handfester und die Rhetorik beißender. Ich weiß noch, wie ich auf dem Weg von einer zur nächsten Kneipe schrie “Du hast dich doch noch nie gekloppt!” und kurz darauf eins in die Fresse bekam. Ich weiß auch wie ich mehrmals zurückhaute und wie wir schließlich in unterschiedliche Gruppen zerstoben. Ich weiß, wie ich dieses Intermezzo in den nächsten Tagen in den unterschiedlichsten Gesprächen mit Freunden, Bekannten und weniger Bekannten sozial wie im Hinblick auf sein anekdotisches Potential ausschlachtete. Jemand hatte mir in die Fresse gehauen und ich hatte mich erfolgreich gewehrt! Ich erzählte gerne Geschichten. Und ich weiß, wie sie mir in dieser Zeit sagte, dass ich doch angefangen, jedenfalls diese Sache provoziert hätte und dass es ihr sehr seltsam vorkommt, wie selbstgerecht ich in dieser Sache war und wie toll ich den Umstand anscheinend fand, irgendjemand vermöbelt zu haben. Sie, das war Judith. Und ich, ich war baff.

Judith war eine Kommilitonin von mir. Im weitesten Sinne kannten wir uns sogar, weil sie ebenso wie ich an der Uni arbeitete. Wir hatten gerade am Rechner ihres Chefs irgendwas repariert und waren danach Tee im Unicafé trinken gegangen, als ich meine Geschichte mit der Klopperei erzählte. Kaum hatte sie gesagt, was sie gesagt hatte, sah ich sie mit anderen Augen. Ich sah sie mit den Augen von Nagel, weil ich mich mit den Augen von Nagel sah. Nagel war kein “am unteren Ende zugespitzter, am oberen Ende abgeplatteter oder abgerundeter Metallstift, der in etwas hineingetrieben wird”, wie der Duden es beschreibt, sondern der Sänger meiner Lieblingsband Muff Potter. Dieser schrieb nicht nur Songs, sondern auch Prosa und hatte das Talent, in seinen Beschreibungen von Gefühlszuständen sehr oft meinem eigenen Empfinden verdächtig nahe zu kommen. Ich war gerade Hals über Kopf im Muff-Potter und Nagel-Fieber als all sich das alles anbahnte. Nagel jedenfalls hatte ein paar seiner Texte mit Musikbegleitung vertont und darunter befand sich auch “Tel Aviv”.

In “Tel Aviv” beschreibt Nagel eine zufällige Urlaubsbegegnung in einer Strandbar im gleichnamigen Ort mit einer Frau namens Verena. Er verguckt sich sofort in sie und schnell wird klar, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Beide liegen “auf einer Wellenlänge”, wie er sagt. Bevor Nagel bzw. der Protagonist den Heimflug antritt, fragt er - für sich selbst überraschend - Verena, ob sie mit ihm durch die USA reisen möchte und sie sagt - mindestens genauso überraschend - ja. Ich konnte nicht anders als Judith für Verena zu halten. Nicht, weil ich vorhatte, mit Judith durch die USA zu reisen oder mich im Urlaub befand oder wir in einer Strandbar saßen, oder so, sondern weil ich davon ausging, dass die guten Dinge so Leuten wie Nagel und mir genau so zustoßen würden. Wir würden in einer Wolke aus plötzlicher, überraschender Selbstverständlichkeit Frauen wie Verena und Judith kennenlernen und selbst der allerschwärzeste Alltagsfrust würde sich ganz unproblematisch von der Seele lösen. Unter diesen Umständen konnte selbst die Weltrevolution auf sich warten lassen. So war das nämlich, bei so Leuten wie uns. Und Judith war dieser Verena sehr ähnlich, all das, was Nagel für sie in Anspruch nahm - “selbstbewusst, intelligent, lebensfroh, hedonistisch, unkompliziert, freundlich” - schien auch für Judith zu stimmen. Sie hatte sogar eine rauchige, tiefe Stimme, wie Nagel an anderer Stelle angab! Ich verliebte mich so dermaßen in sie, dass ich in meiner Aufgeregtheit überhaupt nicht mitbekam, dass weder ich Nagel noch sie Verena war.

Unüberraschenderweise wurde aus all dem überhaupt nichts. Sie setzte sich nicht auf meinen Schoß und küsste mich (was selbst mir in der Uni-Cafeteria etwas komisch und abrupt vorgekommen wäre) und wir schliefen nie - weder am ersten Abend wie Verena und der Protagonist, noch später - miteinander. Es war alles dann doch sehr anders als in “Tel Aviv”. Wir trafen uns aber jetzt trotzdem öfter. Ich kann mich an einen Nachmittag bei ihr erinnern, an dem ich ihr den Track sogar einmal vorspielte und er im Prinzip keine Wirkung hatte. Wieso war ich eigentlich nicht stutzig geworden? Welche Wirkung hatte ich, das nervöse, regelrecht überverliebte, Nervenbündel, was ich zu diesem Zeitpunkt war, aber eigentlich auch erwartet?

Zum ersten Mal kumulierte das alles in einer Situation in der sie mir sagte, dass sie sich das - Quelle surprise! - nicht vorstellen konnte. Ich war am Boden zerstört. Wir verabredeten uns um darüber zu sprechen und ich fuhr in meiner Fahrigkeit zum falschen Bahnhof. Ich stand am Tempelhofer Feld unter stahlgrauem Himmel und versuchte mich, während ich auf Judith wartete, vom kommenden Gespräch abzulenken. Es half nicht, dass mir gegenüber auf der anderen Straßenseite ein frisch verliebtes Touristenpärchen anscheinend der ganzen Welt präsentieren wollte, was hier die eigentliche Hauptattraktion der Stadt war. Sie knutschten so dermaßen, dass man fast für ein Küssverbot sein konnte, wenn man in so einer Situation wie ich war. Ach was, man war für ein Küssverbot! Man war dafür, dass Pärchen, die als solche auf der Straße zu erkennen waren, empfindliche Geldstrafen zu zahlen hätten und schlimmeres erwarten müssten, würden sie sich dann immer noch nicht fügen (RTL 2 gucken müssen z.B.). Wo kämen wir denn hin, wenn alle hier ihre positiven Emotionen in der Welt offen herumtragen würden?! Aber immerhin war Hass etwas besser als Trauer, dachte ich damals, insofern war ich den Arschgeigen dann doch fast dankbar. Kurz darauf erhielt ich eine Nachricht mit der Frage, wo ich denn bliebe. Ich antwortete und fragte meinerseits verdutzt etwas ähnlich Lautendes, stellte dann aber bald meinen Irrtum fest. Das kam dann also auch noch dazu. Die Symbolkraft meines Irrwegs bezüglich dieser ganzen Geschichte lässt sich nur in wissenschaftlicher Notation ausdrücken und erst nach mehrjährigem Studium verstehen, aber im Grunde ist es ganz einfach: Da stand ich an der falschen Haltestelle auf etwas wartend, was nicht eintreten würde, während mein Leben ganz woanders stattfand. Etwa eine halbe Stunde später trafen wir uns dann aber schließlich und es war alles andere als schön. Wie gesagt, konnte sie sich das mit uns nicht vorstellen und sie war auch etwas erstaunt, dass ich es überhaupt konnte. Ich brabbelte, meiner Rolle als Korbkriegender gerecht werdend, dass man das ja alles nicht jetzt schon so genau wüsste. Man könnte doch mal probieren. Und überhaupt. Und so. Meh. Sie bot mir die Freundschaft an. Ich lehnte ab.

Drei Monate später waren wir so unendlich gut befreundet, dass die vorhergehende Episode, wie aus den Erinnerungen eines Anderen rekonstruiert erschienen. Denn, was man immer noch sagen konnte war, dass wir vom Kopf her tatsächlich “auf einer Wellenlänge” lagen. Unsere Kommunikation war sehr schnell und sehr unkompliziert. “Es war Sympathie auf den ersten Blick.” Wir konnten einfach gut miteinander reden. Zugegeben, das hatte allerdings auch gehörige Anstrengungen meinerseits gekostet, mir einzureden, dass ich mit der Frau, in die ich noch vor kurzer Zeit so verliebt war, dass ich mich nicht mal mehr normal gegenüber ihr verhalten konnte, befreundet sein könnte. Ich versuchte es. Dass ich im Hinterkopf die ganze Zeit über parallel dachte, “wer weiß, vielleicht klappt’s ja doch”, wollte ich da jedoch nicht wahrhaben. Es zeigte sich in Kleinigkeiten. Es zeigte sich in meinem Verhalten, dass den Eindruck vermittelte, ich sei Judiths Freund und nicht ein Freund von ihr. Es zeigte sich in dem Umstand, dass, wann immer wir etwas mit anderen Männern machten, sich in mir Eifersucht bemerkbar machte. Es zeigte sich in plötzlichen Gefühlsumschwüngen, wenn mir wieder mal, während wir irgendwo unterwegs waren, bewusst wurde, dass es nicht Freundschaft war, auf die ich hinaus wollte. Rückblickend ist meine Unfähigkeit die Konsequenzen zu ziehen bemerkenswert: Fast neun Monate lebte ich damit. Neun Monate! Neun Monate in denen ich in einem Zustand latenten enttäuscht Seins all die Kleinigkeiten über mich ergehen lies (und das aus Ambivalenzgründen gar “wollte”™), die eine gute Freundschaft ausmachen: lästern über Andere, der Austausch über Hoffnungen und Wünsche bezüglich neuer Beziehungen (ein Kunststück da ehrlich zu bleiben, ohne gleich die Hosen runterzulassen), alte Beziehungsgeschichten, neue Dinge, die sich in diesem Bereich anbahnten, andere Herzscheißigkeiten und die Ups und Downs des Alltags. All das. Und ich versuchte wirklich schön zu finden (und fand’s ja irgendwie auch…), dass Judith mich ins Vertrauen zog. Ich kann mich in meiner Erinnerung sogar Sätze sagen hören, wie “Ich bin ja selbst überrascht, dass ich damit so umgehen kann - bei unserer Vorgeschichte und so”. Es war das verkörperte platonische Ideal einer platonischen Beziehung. Platon würde mir einen Vogel zeigen und daraufhin seiner Theorie künftig eine Notiz beilegen, dass das mit der platonischen Beziehung nur so eine Idee war und nicht in die Realität gehört. Der Ort, an dem ich mich befand, war definitiv nicht “Tel Aviv”. Aber ich hatte ja schon längst “Tel Aviv” vergessen.

Es kam dann alles, wie es kommen musste: Ich sah irgendwann ein, dass es keine Möglichkeit gab, diese “Freundschaft” auszuhalten. Das hieß, dass die Freundschaft zu einer wirklichen Beziehung umgemodelt oder beendet werden musste. Die Parallelität der Entwicklung war bemerkenswert: Wiederum spät im Jahr musste ich Judith erneut fragen, ob sie sich das mit mir vorstellen konnte. Was soll ich sagen: Zu einem Date kam es nicht. Und dann flog ich weg. Dass zwischen “fliegen” und “fliehen” nur ein Buchstabe liegt, ist sicher kein Zufall. Ich wollte eigentlich nach Tel Aviv, weil ich hörte, dass es dort toll sein soll und nach Israel wollte ich sowieso mal. Aber da waren die Hotels zu teuer. Also ging ich nach Hurgharda und buchte, weil ich mich um nichts kümmern wollte, meinen ersten (und wahrscheinlich letzten, wenn mir nicht vorher das Gehirn vollständig entfernt wird…) All-Inclusive-Urlaub.


Und hier stehe ich also auf dem Balkon und versuche meinen enorm verschobenen Schlafrhythmus vor dem Rückflug morgen wieder hinzubekommen. Am Strand spielen sie jetzt “Gangnam Style”. Ich lächle schmerzverzerrt. Gott ist ein Postmoderner. Ich hole mir meinen Kopfhörer und lasse die Musik des letzten Jahres in zufälliger Reihenfolge durchlaufen. Und dann kommt plötzlich “Tel Aviv” von Nagel und mir fällt die ganze Ausgangssituation wieder ein. Und mir wird klar, dass Hurgharda nicht Tel Aviv ist. Mir wird klar, dass es nie Tel Aviv war und auch nie sein wird. Das Rote Meer ist nicht tot und das Tote nicht rot. Mir wird klar, dass ich nicht Nagel bin und Judith nicht Verena war. All der Liebeskummer, weil ich meine Geschichte mit der ausgedachten eines Anderen verwechselt hatte, verwechseln wollte. All diese Verbiegungen, weil ich es mit einer tollen Frau hinbekommen wollte, obwohl diese kein Interesse (in diesem Sinn jedenfalls) hatte. Und dann aber auch wieder: Waren das alles schlechte Monate? Sicher nicht. Wir haben gemeinsam ja trotzdem viel gelacht und ich habe viele tolle Stunden mit Judith verbracht, verbringen dürfen. Echt jetzt. Aber Hurgharda ist eben nicht Tel Aviv. Und es lohnt sich das nie wieder zu vergessen.

U9 nach Flucht

Ich sehe sie immer noch ziemlich gut. Nicht richtig natürlich. Das ganze ist über zwei Wochen her. Aber ich bilde mir ein, dass ich sie besser erkennen kann, als ich es wirklich kann und das hier hilft - zumindest ein bisschen.

Wir saßen beide in der U9, etwas schräg versetzt. Ich hatte irre laut Musik auf den Kopfhörern. Matula. Drei Minuten. Ich nahm einen Um- auf dem Heimweg, um einen Freund zu besuchen, der Computerprobleme hatte, sonst hätte ich sie nie gesehen. Ich habe ihre Stimme leider nie gehört. Ich stelle mir vor, dass sie etwas tiefer ist, nicht piepsig, aber auch nicht rauchig. Sie telefonierte und ich konnte, wenn ich über den Bügel meiner Brille linste, während ich so tat, als würde ich konzentriert die Timeline auf meinem Smartphone verfolgen, ihre graue enge Hose, die viel zu sauberen New Balance Sneaker, ein Knie und vorbei an einer beigen, turnbeutelartigen Tasche ein kleines Dreieck von ihrem Schoß sehen. Ich habe bestimmt auch alle fünf Sekunden hochgeschaut, scheinbar aus dem Fenster der Ubahn. In die Dunkelheit geschaut. Sie lächelte mich an, oder zumindest... in meine Richtung, die Augen abwesend, in die Ferne gerichtet. Vermutlich lächelte sie ins Telefon. Leicht schiefe Zähne, etwas was ich sehr mag. Sie hatte nicht direkt hellblondes Haar, aber hier mochte das Licht täuschen, einige Dreads schlängelten sich durch das auch ansonsten eher strähnige Haar. Der Hoddie, den sie trug, der war glaube ich grau. Oder blau. Ich nahm mir vor, ihr Aussehen nicht sofort wieder zu vergessen. Das passiert mir nämlich ständig. Ich bin nicht vollständig gesichtsblind, aber doch zumindest so sehr, dass ich selbst beste Freunde auf der Straße nicht immer gleich, manchmal gar nicht, erkenne. Sie flüchtet aus meinem Kopf. Ich habe sie nicht angesprochen. Warum?

Ich kann sie mir lebendig machen, weil ich mich an zwei ihrer Gesten erinnern kann: Geste eins war, wie sie ihre Tasche, in der vor Ewigkeiten mal etwas ausgelaufen sein musste, wie bräunliche Flecken am Boden derselben verrieten, mit der Hand festhielt. Ihre Hand hielt die Tasche genau an einer Ecke auf ihrem Schoß. Die Tasche hatte damit noch Spiel, konnte weiter auf ihren Schoß, wenn sie wollte, aber nicht auf den Boden. In der Tasche war etwas, das konnte man sehen, das diese untere Ecke die in ihrer Hand lag, mit der sie Tasche vom Hinuntergleiten auf den Boden abhielt, gleichmäßig ausfüllte. Da war keine Unebenmäßigkeit, keine Falte im Turnbeutelstoff dieser Ecke, nur Glattheit. Und diese gespannte Glattheit ruhte in ihrer Hand. Meistens jedenfalls. Sie hatte diese Ecke kurz über dem linken Knie durch ihren Handballen ausbalanciert. Da ihre Hände aber eher klein waren und die Tasche, durch den die Ecke ausfüllenden Gegenstand, beweglicher, unhandlicher war als sonst, balancierte sie ihren Handballen ab und an neu aus. Die andere Hand konnte nicht zu Hilfe kommen, denn diese hielt ja das Smartphone ans sehr kleine, gepiercte Ohr. Sie drehte also den Handballen mit einer Handgelenkbewegung an der Ecke, wobei bis auf den Daumen alle Finger locker, nur durch die Spannung der in ihnen liegenden Sehnen gehalten, leicht von der Tasche abstanden und sich in diesem weichen, kaum wahrnehmbaren schraubenden Balanceakt des Handballens ebenfalls hin und her bewegten. Man wollte diese Finger sofort greifen, behutsam natürlich, sie sich beschauen, vorsichtig küssen vielleicht und dann, ganz vorsichtig, mit der eigenen viel zu großen, viel zu rauen Hand ihre umschließend, die Fingerspitzen an die Tasche drücken.

Die zweite Geste hat mit ihrem linken Fuß zu tun. Sie schlug die Beine nicht an den Knien übereinander, sondern unten an den knöcheln. aber auch das war flüchtig. Ihr ganzer Körper war die ganze Zeit viel in Bewegung, aber vor allem ihr Unterkörper. Mir fällt das Tucholsky-Zitatbruchstück "Dunnerkeil, das Unterteil" ein. Ihr linker Fuß. Dieser kreiselte nämlich ständig. In der Ausrichtung eindeutig auf mich zeigend. Sohle, Seite, Fußspitze, andere Seite, Sohle, Seite, Fußspit...e... Alles sehr schnell, aber immer in Linie auf meine Körpermitte gerichtet. Vermutlich knackte es bei ihr leise im Knöchel, wenn sie den Fuß auf diese Weise drehte, dachte ich. Die Entdeckung wurde ihr zur Angewohnheit, wurde schließlich zur unbewussten Handlung. Wie anderen das Knie wippte, kreiste ihr linker Fuß selbsttätig. Das ist sie für mich in der Erinnerung: Das Beine an den Knöcheln übereinander Schlagen, dann wieder die Beine angewinkelt, ihr kreiselnder Fuß, das vorsichtige Nachjustieren ihrer kleinen Hand, mit den leicht abstehenden Fingern, an der Ecke ihrer Tasche, ihr Lächeln, das Smartphone am kleinen Ohr. So saß sie in der U9 mir schräg gegenüber. Ich wollte sie auf Händen tragen, wollte ihr Schuhe und Tasche fortreißen, wollte sie fortreißen. Sie sollte mich fortreißen! Ich wollte der sein, zu dem sie fährt, mit dem sie telefoniert, für den sie lächelt, der sie zum Lächeln bringt, den sie zum lächeln bringt, mit dem sie plant nie wieder die U9 zu betreten, sondern eine Rakete zu bauen und zum Mars zu fliegen. Wir würden auf dem Weg dorthin zwar sterben, aber was tut man nicht alles für die Wissenschaft, für die Menschheit! Wir würden die erste Marsmenschengeneration zeugen, noch während wir im Weltall veglühten.

Und dann rief mein Freund an und fragte wo ich bliebe. Ich stieg eine Station zu früh aus und kam absichtlich noch etwas mehr zu spät. Zwischen Leopoldplatz und Nauener Platz liegen irgendwo noch zwei oder drei Tränen der Erregung. Angesprochen habe ich sie nie. Warum?

An: Dich

Hallo du,

schon viel früher hätte ich dir antworten sollen. Selbstverständlich hat mich dein Brief, haben mich deine Briefe erreicht. Meine Briefe haben den umgekehrten Weg nicht mehr geschafft. Dies ist der Letzte Bote, der durch die Reihen meiner dornigen Verteidigung gebrochen ist und nun endlich etwas von mir berichten kann. Doch du wirst gleich sehen, dass seine Mission eine andere ist. Es tut mir sehr leid, dass es so viele Versuche gebraucht hat, bis einem meiner Texte die Flucht zu dir gelungen ist. Du wirst sicher wissen wollen wie es mir geht. Und ich will sagen, dass es gut geht. Will deine Frage ungerechterweise also umgehen, überspringen und stattdessen dich fragen: "Wie geht es dir?"

Wie gefällt dir der Ort an dem du bist? Trägt er zu deinem Glück bei, zu deinem Gefühl, eine Identität zu haben? Oder bist du ständig unterwegs und ist es diese Bewegung - fort von dem alten Ort, hin zum neuen Ort, sich orientieren und schon wieder auf dem Sprung sein - die dich dein Ich fühlen lässt? Oder gar etwas dazwischen, changierend zwischen ausharren und aufbrechen, vielleicht suchend, vielleicht gerade nicht suchend? Ich hoffe du kannst zumindest etwas angeben, Bedingungen für den Ort auf den du dein Leben beziehst. Als Ziel-, Flucht- oder Lebensmittelpunkt, möglicherweise als Punkt jenseits von allen und allem. Als Start- oder Schlusspunkt.

Ich hoffe du gehst unter Leute, oder lässt es bleiben. Ich hoffe, das ändert sich regelmäßig oder unregelmäßig. Wie sind die Menschen um dich? Benehmen sie sich angemessen und auch angemessen daneben? Gibt es da genug Stimulanz, genug Ruhe, genug von Zwischenmenschlichkeiten der Art wie du sie jetzt, kurz-, mittel-, langfristig und/oder rückwirkend brauchst? Ich wünsche dir es. Wünsche dir die überraschende Wärme und Kälte fremder und bekannter Körper, wünsche dir Sex, wünsche dir, dass du Liebe kennst, wenn du damit etwas anzufangen weißt, dass du sie finden mögest, wenn du nach ihr auf der Suche bist. Ich wünsche dir, dass du Freunde hast, die für dich einen Teil der Entscheidungen mitbestimmen können, wenn du ihnen diese Ehre und Bürde gewähren willst. Wie du siehst: Ich kann dir nichts abnehmen, kann weder die Ehre noch die Bürde auf mich nehmen. Ich kann dir nur wünschen, dass du für alles in deinem Leben Wünsche artikulieren kannst. Ausschweifend oder kurz. Tanzend? Es ist von dir abhängig.

Ich wünsche dir, wenn es dir gefällt, dass dir jemand Bilder mit dem Zeigefinger auf den nackten Rücken am Strand deiner Wahl malt. Und wenn du Melancholie schön findest, dass du dich selbst und allein, nicht einsam, im grüngraublau deiner liebsten Herbstlandschaft fast zu verlieren glaubst - nur um dich, um dein Ich, dann doch irgendwo ein Stück zurückzugewinnen. Ich wünsche dir konkrete Erfahrungen, von dieser Art. Erfahrungen von der Art, wie sie dich noch lange in Schwingungen versetzen können - könnten - und dir die Möglichkeit zu deiner Kreativität eröffnen, wie immer der Weg dorthin für dich konkret aussehen mag.

Ich möchte einen Ort, eine Identifikation, eine Umwelt für dich mitersehnen, doch fehlt mir der Zugang, die Möglichkeit dazu. Das heißt, du bist fürs Erste auf dich allein gestellt und ich bin, wie so oft, nicht sehr hilfreich. Diese eine Bitte sei mir jedoch noch gestattet: Nimm diesen Brief als Anlass, als Ausgangspunkt oder Bewegungsgrund, als Anstoß, zur Gelegenheit deinen eigenen Möglichkeitsraum als Wirklichkeitsraum zu gestalten. Du existierst, so viel ist sicher. Und klar bedeutet das "in Abhängigkeit zu so vielen und vielem, aus Gründen verschiedener historischer, biografischer und biologischer Begebenheiten genau hier und jetzt, so oder so". Doch bist du nicht vollständig determiniert, verdammt, verpflichtet, befähigt. Du bist kein Schienenfahrzeug, höchstens eingefahren. Und das heißt: Alles andere ist jetzt erstmal von dir abhängig, wenn du möchtest.

Liebe Grüße und auf bald!

Dein,
Ich.

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