Der Mann und sein Kampf
Heute, als ich ein paar Bücher und kopierte Aufsätze für eine meiner Hausarbeiten von der Bibliothek abholte und nach Hause fahren wollte, begegnete ich einem Mann, der sich oder eine imaginäre Person verprügelte.
Es ist ein grauer Tag, aber auch nicht so richtig, denn auch wenn der Himmel weitestgehend einheitlich aussah, brach der Grauschleier doch an den Ecken immer wieder auf und lies Luft für etwas andere Farbtupfer. Wie Schlüssellöcher konnte man den Himmel hinter dem Himmel sehen und daran gemächlich die Hoffnungslosigkeit auf besseres Wetter gegen die Hoffnung auf einen richtig schönen Nachmittag eintauschen. Dieser Himmel war wie ein kleines Kind, dass ich beim Aufwachen beobachten kann. Ganz langsam rekelt und streckt es sich und gibt hier und da schon einen Blick auf seine Augen frei. Fragt sich nur, wer hier wen beobachtet, denke ich.
Ich habe gerade die Bibliothek verlassen und laufe die Straße zum Bahnhof entlang, als ich in einiger Entfernung einen Mann mit wirrem Haar, vielleicht in meinem Alter, sehe. Er steht auf der anderen Straßenseite, an einem Grünstreifen und macht eigenartige Bewegungen, wie als würde er den fliehenden Flügelschlag eines Vogels nachzeichnen, nur umgekehrt. Der, die oder das was dort neben ihm gelandet ist, ist unsichtbar. Der Mann verfängt sich jedoch in ein stummes aber deswegen nicht weniger energischer geführtes Gespräch, während ich weiter auf ihn zu laufe.
Ab und an kreuzen sich unsere Blicke, doch der Einzige, der zuckt bin ich, denn dieser Mann - ich habe das dringende Bedürfnis ihm einen Namen zu geben, Benni vielleicht - nimmt mich nicht wahr. Er beginnt sich zu prügeln, mit sich selbst oder der Person, die ich nicht sehen kann, nicht begreifen kann, doch er prügelt sich und sie, ist noch im Kampf als ich auf einer Höhe mit ihm bin, noch als ich schon an ihm vorbeigelaufen bin und mich ab und an umdrehe. Der Kampf ist anstrengend für ihn. Ich weiß nicht genau was ich tun soll. Braucht dieser Mann Hilfe? Vielleicht, aber die Bahnhofsmission ist hier gleich in der Nähe, also kein Grund zur Sorge.
Und dann wird es mir klar: Dieser Mann ist vermutlich glücklicher in sich, als ich es vielleicht jemals sein werde, denn er gewinnt seinen Kampf, das sehe ich und das vermutlich immer.
Ist es nicht erstaunlich, dass ich in der Lage bin glücklich für jemanden zu sein, der seine Dämonen so eindeutig vor der Nase hat und bekämpfen muss, ich mich aber, obwohl ich meine Dämonen auch benennen kann niemals so mutig habe wehren können? Ich weiß doch wie es richtig geht! Und warum braucht dieser Mann einen Namen? Was gibt mir das Recht darüber zu entscheiden, ob dieser Mann einen Namen haben muss? Wieso kann ich mich nicht einfach so an seiner Existenz erfreuen? Ich weiß die Antwort natürlich. Weil ich es selbst nie konnte. Ich konnte nur ich sein, wenn es mir gewährt wurde, wenn man mir es erlaubt hat. Dieser Mann macht das nicht, er erlaubt sich nichts, sondern er ist und kämpft und gewinnt. Mögen ihn alle noch für so "seltsam" und "verschroben" und "bekloppt" und "nicht ganz dicht" halten: Für mich war er - dank seiner Courage, den Kampf aufzunehmen, zu sein wie er ist und nicht auf die Bestätigung zu warten, ob er auch kämpfen darf, ob er überhaupt kämpfen sollte - mein Held des Tages.