Brücken
1
Kannst du dich noch dran erinnern? Es war ein grauer Mittwoch Nachmittag, damals in der Grundschule. Die letzten beiden Stunden auf dem Plan sahen Sportunterricht vor und zu allem Überfluss stand eine Kugelstoßkontrolle auf dem Programm. Du warst nie gut im Kugelstoßen, eigentlich warst du sogar so schlecht im Kugelstoßen, dass du vermutlich, wie schon letztes Jahr, maximal eine vier wirst erreichen können. Du strengst dich ja an, aber keinen interessiert es. Es ist so ungerecht, sich an diesen Zahlen des Durchschnittsschülers messen zu lassen.
Du bist dafür sehr gut im Schreiben und im Formulieren, dir macht das Freude wie sonst nichts auf der Welt. Du kannst dich in der Raufasertapete, oder im Badeschaum verlieren und die Geschichten und fantastischen Möglichkeiten fliegen dir zu, du nimmst sie wie durch Osmose auf, du weißt gar nicht, warum dem so ist.
Du wirst älter, wie alle anderen auch. Etwas verfestigt sich in dir. Wie auf der Haut fest gewordener Teig. Es zieht und zippt und eine Weile wehrst du dich noch dagegen, aber irgendwann tust du auch das nicht mehr und wirst damit immer mehr zu der, die du sein willst, musst - und gehst nun, dergestalt auf deine Talente und Ansichten eingeschränkt in deine Richtung. Du kriegst keine Werkzeuge mit auf den Weg wie viele andere, denn du willst deinen eigenen Weg machen. Immer weiter, immer tiefer in deinen Kaninchenbau. Zumindest ein Teil von dir geht dort hin, immer wieder. Du als dein eigener Sklave. Gedanke um Gedanke trägst du aus deinem Gedankensteinbruch. Es ist so mühsam, aufregend, erschreckend, fordernd, langweilig und all das etwas aus all dem was in dir steckt zu formen, denn dein Steinbruch, das bist auch du.
2
Und dann kommen schließlich irgendwann die Konflikte und Dinge und vor allem Menschen mit denen du nicht mehr kannst, weil sie anders buddeln und Werkzeuge haben, weil sie wissen, wenn sie jetzt so bleiben und nicht auf deine Ratschläge hören, dann finden sie ihre geniale Ader, sie vertrauen auf ihren Instinkt, oder ihr System, ihren Glauben oder ihre Hoffnung, ihre Ignoranz, weil man nicht alles gleichzeitig kann und sie allein schon deswegen nur an einer Front kämpfen. Weil sie es dir nicht erklären können.
Du kannst es kaum verstehen, warum man nicht auf dich hört. "So glaubt mir doch", rufst du aus, "wenn wir es alle so machen, wie ich es will, dann machen wir es richtig, dann ist es fair." Aber keiner hört dich und auch du hörst irgendwann niemanden mehr, weil auch du weißt, dass du auf dem richtigen Weg bist, diesen Schacht noch ein paar Meter weiter mit blutenden Fingerkuppen freischlagen und du triffst auf deine Ader, alle werden verstehen. Du wirst frei sein.
3
Aber dann ist dort doch keine Ader, auch dort ist wieder nur Geröll und du musst Stein um Stein wegräumen und es ist alles so so anstrengend und du wirst unfair von den anderen behandelt, so dass du am liebsten schreien willst. Denn du siehst nicht, wie sie in sich selbst ebenfalls buddeln und graben und suchen und hoffen und fühlen und sind. Sie haben sich noch nicht selbst, so wie du dich noch nicht hast, aber demnächst kommt die Ader. Du bist so traurig, dass dir keiner zuhört, obwohl du doch wissen würdest wie es geht. Dir fehlt nur die Kraft es auch zu machen. Du siehst ein, dass du es nicht alleine kannst.
Du bist halt keine Kugelstoßerin, noch nie gewesen. Du hast keine Kraft, du hast Ideen, du willst bewegen, du willst, dass es alle besser machen und vor allem, dass die Kugelstoßer, diese dummen dummen Kugelstoßer endlich zuhören! Sie suchen so sehr ohne System und kommen doch so weit und es ist so ungerecht, weil sie dich damit unterdrücken und andere wie du sehen das auch so. Und ihr wisst ja, dass ihr recht habt und mir geht es ganz genauso wie euch.
Manchmal ist es dir dann zu viel und du steigst auf deinen Berg und du erhebst dich und rufst: "Ihr tut mir weh, ihr Schweine tut mir alle so weh, warum muss ich leiden? Weil ich die Kugel nicht so weit stoßen konnte? Weil ich zu gut in Deutsch war? Weil ich keine Kugelstoßerin bin?" Und ohne, dass du es wolltest teilt sich plötzlich alles in die und dich und deine Leute und zwischen denen und euch fließt plötzlich der reißende Fluss. Ihr baut Mauern aus Argumenten, den Steinen aus euren Steinbrüchen und zementiert sie mit dem Staub, den ihr blutig hustend aus euren Steinbrüchen mitgebracht habt und ihr ruft zusammen auf die andere Seite des Flusses: "Seht ihr, wie wir leiden? Und das alles wegen euch!"
4
Die anderen sehen und hören euch nicht. Sie sind beschäftigt. Sie hören, dass ihr gelegentlich "Schweine" herüber ruft, aber mit solchen Leuten will man nichts zu tun haben, dafür hat man keine Zeit, weil man nämlich weiß, dass hinter der nächsten Biegung schon die Lösung sein könnte, nach der man so lange gesucht hat, für die man so lange gearbeitet hat.
Manchmal, wenn die anderen selbst gerade nicht graben, dann schauen sie abschätzig auf eure Bergfestung und lachen und spielen mit euch. Sie hören "Wir leiden ihr, Schweine" und antworten mit schallendem Gelächter. Sie wissen, dass sie stärker sind. "Hier auf unseren Zeugnissen von damals aus der Schulzeit ist vermerkt: "4 Kilokugel knapp 8 Meter Einsplus". Sei genauso gut und wir reden weiter. Und so lange will ich nichts von Ungerechtigkeit hören! Du musst doch nur übenübenüben!"
5
Ich sehe mir das alles von meinem Floß an, während ich mir, den Kopf geneigt den Sand aus aus den Ohren und Augen rieseln lasse. Wenn ich mich vorstellen darf? Ich bin Martin und meine Profession ist Brückenbauer. Ich fahre auf eurem Fluss und weiche den Stromschnellen mal auf eurer, mal auf der Seite der anderen aus. Meine Steine werfe ich in euer Wasser, weil meine Hoffnung nämlich ihr seid.
Ich pfeife mein Lied und sehe euch und die jeweils anderen auf euren Bergen stehen, grüße vergnügt das Mädchen und den Jungen, die ihr mal wart und die nun an euren Bergen zu tragen haben - für was? Meine Steine plumpsen weiter ins Wasser, wo Stromschnellen waren, entsteht eine Furt, ein verbindendes Element, eine Assoziation aus elastisch Gewundenem, meinem Innersten, wird zu einer organischen Brücke. Hier unten finden die unmöglichen Verbindungen statt, im Abraum der Idealisten. Wo die Menschen wohnen.
6
Wart ihr mal unten am Fuße eurer Berge? Habt ihr gefragt, was eure halbblinden inneren Kinder einst wollten? Ich war dort und sehe sie alle, während ich eure reißenden Flüsse entlangstacke. Ich sehe auch all die anderen, die sich zum Freiwilligendienst meldeten, nur um auch an eurer Mine graben zu könnnen, nur um dabei zu sein, weil sie euch lieben.
Dabei brauchen wir Brücken mehr denn je. Die Erde und die Menschen werden transparent, die Welt wird lauter, die Gedanken diamentener, die Minen tiefer. Wir brauchen uns alle, wir brauchen die Berge und dich und die Kugelstoßer, aber vor allem brauchen wir Brückenbauer und deshalb bitte ich dich: Komm mit mir, lass uns eine Brücke bauen. Nur eine. Nur eine Hand, die die andere fässt, nur eine weitere, die die Schulter berührt. Nur ein Kopf, der auf dem Herzen liegt, nur ein Rücken, der die Last des anderen trägt.
Eine sorgsam zusammengefaltete Hoffnung auf ein besseres Danach kann mehr bedeuten, als jeder 24-karätige Glauben recht zu haben.