Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

U9 nach Flucht

Ich sehe sie immer noch ziemlich gut. Nicht richtig natürlich. Das ganze ist über zwei Wochen her. Aber ich bilde mir ein, dass ich sie besser erkennen kann, als ich es wirklich kann und das hier hilft - zumindest ein bisschen.

Wir saßen beide in der U9, etwas schräg versetzt. Ich hatte irre laut Musik auf den Kopfhörern. Matula. Drei Minuten. Ich nahm einen Um- auf dem Heimweg, um einen Freund zu besuchen, der Computerprobleme hatte, sonst hätte ich sie nie gesehen. Ich habe ihre Stimme leider nie gehört. Ich stelle mir vor, dass sie etwas tiefer ist, nicht piepsig, aber auch nicht rauchig. Sie telefonierte und ich konnte, wenn ich über den Bügel meiner Brille linste, während ich so tat, als würde ich konzentriert die Timeline auf meinem Smartphone verfolgen, ihre graue enge Hose, die viel zu sauberen New Balance Sneaker, ein Knie und vorbei an einer beigen, turnbeutelartigen Tasche ein kleines Dreieck von ihrem Schoß sehen. Ich habe bestimmt auch alle fünf Sekunden hochgeschaut, scheinbar aus dem Fenster der Ubahn. In die Dunkelheit geschaut. Sie lächelte mich an, oder zumindest... in meine Richtung, die Augen abwesend, in die Ferne gerichtet. Vermutlich lächelte sie ins Telefon. Leicht schiefe Zähne, etwas was ich sehr mag. Sie hatte nicht direkt hellblondes Haar, aber hier mochte das Licht täuschen, einige Dreads schlängelten sich durch das auch ansonsten eher strähnige Haar. Der Hoddie, den sie trug, der war glaube ich grau. Oder blau. Ich nahm mir vor, ihr Aussehen nicht sofort wieder zu vergessen. Das passiert mir nämlich ständig. Ich bin nicht vollständig gesichtsblind, aber doch zumindest so sehr, dass ich selbst beste Freunde auf der Straße nicht immer gleich, manchmal gar nicht, erkenne. Sie flüchtet aus meinem Kopf. Ich habe sie nicht angesprochen. Warum?

Ich kann sie mir lebendig machen, weil ich mich an zwei ihrer Gesten erinnern kann: Geste eins war, wie sie ihre Tasche, in der vor Ewigkeiten mal etwas ausgelaufen sein musste, wie bräunliche Flecken am Boden derselben verrieten, mit der Hand festhielt. Ihre Hand hielt die Tasche genau an einer Ecke auf ihrem Schoß. Die Tasche hatte damit noch Spiel, konnte weiter auf ihren Schoß, wenn sie wollte, aber nicht auf den Boden. In der Tasche war etwas, das konnte man sehen, das diese untere Ecke die in ihrer Hand lag, mit der sie Tasche vom Hinuntergleiten auf den Boden abhielt, gleichmäßig ausfüllte. Da war keine Unebenmäßigkeit, keine Falte im Turnbeutelstoff dieser Ecke, nur Glattheit. Und diese gespannte Glattheit ruhte in ihrer Hand. Meistens jedenfalls. Sie hatte diese Ecke kurz über dem linken Knie durch ihren Handballen ausbalanciert. Da ihre Hände aber eher klein waren und die Tasche, durch den die Ecke ausfüllenden Gegenstand, beweglicher, unhandlicher war als sonst, balancierte sie ihren Handballen ab und an neu aus. Die andere Hand konnte nicht zu Hilfe kommen, denn diese hielt ja das Smartphone ans sehr kleine, gepiercte Ohr. Sie drehte also den Handballen mit einer Handgelenkbewegung an der Ecke, wobei bis auf den Daumen alle Finger locker, nur durch die Spannung der in ihnen liegenden Sehnen gehalten, leicht von der Tasche abstanden und sich in diesem weichen, kaum wahrnehmbaren schraubenden Balanceakt des Handballens ebenfalls hin und her bewegten. Man wollte diese Finger sofort greifen, behutsam natürlich, sie sich beschauen, vorsichtig küssen vielleicht und dann, ganz vorsichtig, mit der eigenen viel zu großen, viel zu rauen Hand ihre umschließend, die Fingerspitzen an die Tasche drücken.

Die zweite Geste hat mit ihrem linken Fuß zu tun. Sie schlug die Beine nicht an den Knien übereinander, sondern unten an den knöcheln. aber auch das war flüchtig. Ihr ganzer Körper war die ganze Zeit viel in Bewegung, aber vor allem ihr Unterkörper. Mir fällt das Tucholsky-Zitatbruchstück "Dunnerkeil, das Unterteil" ein. Ihr linker Fuß. Dieser kreiselte nämlich ständig. In der Ausrichtung eindeutig auf mich zeigend. Sohle, Seite, Fußspitze, andere Seite, Sohle, Seite, Fußspit...e... Alles sehr schnell, aber immer in Linie auf meine Körpermitte gerichtet. Vermutlich knackte es bei ihr leise im Knöchel, wenn sie den Fuß auf diese Weise drehte, dachte ich. Die Entdeckung wurde ihr zur Angewohnheit, wurde schließlich zur unbewussten Handlung. Wie anderen das Knie wippte, kreiste ihr linker Fuß selbsttätig. Das ist sie für mich in der Erinnerung: Das Beine an den Knöcheln übereinander Schlagen, dann wieder die Beine angewinkelt, ihr kreiselnder Fuß, das vorsichtige Nachjustieren ihrer kleinen Hand, mit den leicht abstehenden Fingern, an der Ecke ihrer Tasche, ihr Lächeln, das Smartphone am kleinen Ohr. So saß sie in der U9 mir schräg gegenüber. Ich wollte sie auf Händen tragen, wollte ihr Schuhe und Tasche fortreißen, wollte sie fortreißen. Sie sollte mich fortreißen! Ich wollte der sein, zu dem sie fährt, mit dem sie telefoniert, für den sie lächelt, der sie zum Lächeln bringt, den sie zum lächeln bringt, mit dem sie plant nie wieder die U9 zu betreten, sondern eine Rakete zu bauen und zum Mars zu fliegen. Wir würden auf dem Weg dorthin zwar sterben, aber was tut man nicht alles für die Wissenschaft, für die Menschheit! Wir würden die erste Marsmenschengeneration zeugen, noch während wir im Weltall veglühten.

Und dann rief mein Freund an und fragte wo ich bliebe. Ich stieg eine Station zu früh aus und kam absichtlich noch etwas mehr zu spät. Zwischen Leopoldplatz und Nauener Platz liegen irgendwo noch zwei oder drei Tränen der Erregung. Angesprochen habe ich sie nie. Warum?

An: Dich

Hallo du,

schon viel früher hätte ich dir antworten sollen. Selbstverständlich hat mich dein Brief, haben mich deine Briefe erreicht. Meine Briefe haben den umgekehrten Weg nicht mehr geschafft. Dies ist der Letzte Bote, der durch die Reihen meiner dornigen Verteidigung gebrochen ist und nun endlich etwas von mir berichten kann. Doch du wirst gleich sehen, dass seine Mission eine andere ist. Es tut mir sehr leid, dass es so viele Versuche gebraucht hat, bis einem meiner Texte die Flucht zu dir gelungen ist. Du wirst sicher wissen wollen wie es mir geht. Und ich will sagen, dass es gut geht. Will deine Frage ungerechterweise also umgehen, überspringen und stattdessen dich fragen: "Wie geht es dir?"

Wie gefällt dir der Ort an dem du bist? Trägt er zu deinem Glück bei, zu deinem Gefühl, eine Identität zu haben? Oder bist du ständig unterwegs und ist es diese Bewegung - fort von dem alten Ort, hin zum neuen Ort, sich orientieren und schon wieder auf dem Sprung sein - die dich dein Ich fühlen lässt? Oder gar etwas dazwischen, changierend zwischen ausharren und aufbrechen, vielleicht suchend, vielleicht gerade nicht suchend? Ich hoffe du kannst zumindest etwas angeben, Bedingungen für den Ort auf den du dein Leben beziehst. Als Ziel-, Flucht- oder Lebensmittelpunkt, möglicherweise als Punkt jenseits von allen und allem. Als Start- oder Schlusspunkt.

Ich hoffe du gehst unter Leute, oder lässt es bleiben. Ich hoffe, das ändert sich regelmäßig oder unregelmäßig. Wie sind die Menschen um dich? Benehmen sie sich angemessen und auch angemessen daneben? Gibt es da genug Stimulanz, genug Ruhe, genug von Zwischenmenschlichkeiten der Art wie du sie jetzt, kurz-, mittel-, langfristig und/oder rückwirkend brauchst? Ich wünsche dir es. Wünsche dir die überraschende Wärme und Kälte fremder und bekannter Körper, wünsche dir Sex, wünsche dir, dass du Liebe kennst, wenn du damit etwas anzufangen weißt, dass du sie finden mögest, wenn du nach ihr auf der Suche bist. Ich wünsche dir, dass du Freunde hast, die für dich einen Teil der Entscheidungen mitbestimmen können, wenn du ihnen diese Ehre und Bürde gewähren willst. Wie du siehst: Ich kann dir nichts abnehmen, kann weder die Ehre noch die Bürde auf mich nehmen. Ich kann dir nur wünschen, dass du für alles in deinem Leben Wünsche artikulieren kannst. Ausschweifend oder kurz. Tanzend? Es ist von dir abhängig.

Ich wünsche dir, wenn es dir gefällt, dass dir jemand Bilder mit dem Zeigefinger auf den nackten Rücken am Strand deiner Wahl malt. Und wenn du Melancholie schön findest, dass du dich selbst und allein, nicht einsam, im grüngraublau deiner liebsten Herbstlandschaft fast zu verlieren glaubst - nur um dich, um dein Ich, dann doch irgendwo ein Stück zurückzugewinnen. Ich wünsche dir konkrete Erfahrungen, von dieser Art. Erfahrungen von der Art, wie sie dich noch lange in Schwingungen versetzen können - könnten - und dir die Möglichkeit zu deiner Kreativität eröffnen, wie immer der Weg dorthin für dich konkret aussehen mag.

Ich möchte einen Ort, eine Identifikation, eine Umwelt für dich mitersehnen, doch fehlt mir der Zugang, die Möglichkeit dazu. Das heißt, du bist fürs Erste auf dich allein gestellt und ich bin, wie so oft, nicht sehr hilfreich. Diese eine Bitte sei mir jedoch noch gestattet: Nimm diesen Brief als Anlass, als Ausgangspunkt oder Bewegungsgrund, als Anstoß, zur Gelegenheit deinen eigenen Möglichkeitsraum als Wirklichkeitsraum zu gestalten. Du existierst, so viel ist sicher. Und klar bedeutet das "in Abhängigkeit zu so vielen und vielem, aus Gründen verschiedener historischer, biografischer und biologischer Begebenheiten genau hier und jetzt, so oder so". Doch bist du nicht vollständig determiniert, verdammt, verpflichtet, befähigt. Du bist kein Schienenfahrzeug, höchstens eingefahren. Und das heißt: Alles andere ist jetzt erstmal von dir abhängig, wenn du möchtest.

Liebe Grüße und auf bald!

Dein,
Ich.

Mitte-Außen

Ich sitze in der Mitte von mir. Ich sitze aber auch in der Mitte von Berlin. Ich sitze in einem Hinterhof an meinem Schreibtisch von dem aus der Blick auf eine im Innenhof stehende Kastanie fällt. In Gedanken transformiere ich die Kastanie, mache sie zu einer Eiche und verpflanze sie in meine Vergangenheit, gegenüber dem Haus meiner Großeltern auf die riesige brachliegende Fläche, am Bahndamm. Ich nennen die Kastanie, die jetzt wieder eine Eiche ist unseren Kletterbaum. Viel Zeit habe ich dort verbracht als Kind, mit meinen Cousins und Cousinen. Weit hinauf konnte man klettern, die brache Landschaft bis zum Bahndamm sehen. Es wäre gelogen, wenn ich sagte, dass man die Mitte der Stadt von dort sehen konnte, man konnte es nicht, aber man konnte es sich vorstellen.

Meine Familie ist eine Familie der Grenze. In Teltow, dort wo unser Kletterbaum stand, zerfiel die Welt entzwei, in Ost und West, in erlaubt und verboten, in anseh- und unsichtbar. Doch die Welt zerfiel nicht vor den Augen von uns Kindern. Sie war schon zerfallen und was wir sahen - den passierten Zerfall - war nicht mal mehr ein Nachbeben. Es war die Stille nach dem Nachbeben. Es war der agnostische Moment in dem man immer noch nicht so richtig glauben konnte, dass es wirklich vorbei war. Die Entzweiung selbst war dekonstruiert und trotzdem noch in der Welt. Sie zeigte ihre geisterhafte Handlungsmacht in fast jeder Äußerung, in den Bewegungen der gesamten Familie und in ihren einzelnen Gliedern. Sie stellte ganz offen infrage, was diese Familie als ihre Tradition erlebt hatte: Es ist richtig, dass es ein "Da" gibt, es ist richtig, dass es dort anders ist, aber es ist auch richtig, dass es ein "Hier" gibt, dass dieses "Hier" uns etwas gibt, was uns hier hält, dass es uns gehört, dass wir sind, eine Herkunft, eine - neue, wohlgemerkt - Heimat, ein Platz in der Welt, der wenn schon nicht Mitte, dann doch zumindest unsere relative Mitte ist. Ein Schubfach, in dem wir sind. Darin enthalten: Die fast schon zwangsläufige Gegenbewegung, gegen das Andere, den Westen. Wie beim Tauziehen; wer den Standpunkt verliert, fällt, verbrennt sich schon bald die Finger am vorbeireißenden Seil. Nur war es aus der Perspektive von uns Kindern schon längst geschehen.

Der ganze Ort war schon längst im Fallen begriffen, als alle noch glaubten, man würde einfach weiterziehen können, man würde das Seil den jüngeren übergeben, wenn man selbst zu alt war, zu alkoholkrank, wenn man eher im Weg stand - wenn man das dann noch entscheiden konnte. Wir Kinder wurden dadurch entzweit. Entzweit durch eine Entzweiung, die wir nur ihrer Stille nach kannten, weil wir sie lediglich als Danach erlebt hatten und kennen lernen konnten. Wir konnten nur von dem was fehlte ausgehend uns entscheiden. Wir mussten Fragen stellen, Zuordnungen machen, die sich nicht auf eigene Erfahrungen stützten, es waren Erfahrungen zweiten Grades: Wir fragten unsere Eltern wie es damals Hier und Drüben war. Wir fragten, wie sie es empfanden, was sie getan hatten, was sie nicht getan hatten. Wir fragten: Warum? Wir fragten, was wir tun sollten. Vor uns - räumlich wie zeitlich - waren unsere Eltern, Großeltern, Onkels und Tanten entzwei gebrochen, in sich, wie zwischen sich. Die Entzweiung war in der Welt und doch vorbei.

Und so entschieden wir uns. Wir entschieden uns den Standpunkt zu halten, oder ihn zu verändern. Wir entschieden uns Kontakte abzubrechen. Wir entschieden uns, uns nie wieder oder ständig mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und gleichzeitig entschieden wir nie, wir waren entschieden worden. Uns wurde entschieden. Der Kletterbaum transformierte sich. Bald waren es andere Bäume, andere Dinge, die an den Wochenenden eine Rolle spielten, bald Mopeds, Comics, Bücher, Computer, Videospiele. Der Baum, der in einer schon entzweiten Welt eine Art Einheit symbolisiert hatte, wurde zu einem Symbol der Entzweiung, wurde schließlich zum Symbol der Enteinzelung.

Ich? Ich war bald Teil einer anders strukturierten Familie. Entzweiung. Schließlich Teil einer überhaupt nicht mehr als Familie zu begreifenden Struktur. Enteinzelung. Ich war plötzlich Teil der Gruppe "nicht wirklich von hier", ich kam von "dort". Entzweiung. Irgendwann kam ich nicht einmal mehr von dort. Enteinzelung.

Ich zerfiel irgendwann, in mir. Unfähig zu entscheiden, unfähig nicht zu entscheiden. Unfähig zur Äußerung, unfähig mich nicht ständig zu äußern. Unfähig zu lieben, unfähig geliebt zu werden. Mein emotionales wie mein vernünftiges Leben nahmen eigene Wege in mir, explodierten schließlich kaskadierend, bildeten Metastasen, überlagerten sich, blühten auf. Doch stets alles in mir.

Die Stille nach dem Nachhall der Enteinzelung, ist nur durch die Stille nach dem Nachhall der Entzweiung zu erklären.

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