Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Splitter

“Es ist erstaunlich, aber ich habe Gefühle.”, denkst du. Du kannst dich kaum auf dein Buch konzentrieren. Du kannst dir kaum vorstellen, dass irgendjemand sich je vorstellen konnte, dass Lesen mehr als Lesen ist. Das hat alles keinen Sinn. Gegenüber, an den Arbeitstischen in der Bibliothek, andere Menschen. Dort saßt ihr bis vor Kurzem noch immer. Und jetzt kannst du es nicht mehr. Du hörst all das Schnattern, siehst all die Leute, all das was du ausschalten konntest ist jetzt da. Warum? Weil du Teil davon warst. Du wars genau wie die Anderen damit beschäftigt diese Bibliothek zu performen. Du warst nicht beunruhigt von dem Umstand, dass da etwas in dir gelandet ist. Etwas in dein Denken einschlug. Du warst begeistert. Das süße Stechen des Fremden in dir. Ein Splitter, schmerzhaft und behindernd, wohnt seitdem in deinem Herzhirn. Aber nicht in deinem Schwanz.

Aber jetzt bist du wieder allein mit deinem Splitter. Er strahlt in fast alles aus, überstrahlt fast jeden anderen Schmerz. Wie betäubt gehst du, seit dem der Splitter in dir steckt und dein Denken vereitert, durch dein Leben. Du lässt ihn verbleiben, obwohl er dich zeitweise fast entmenschlicht, wenn du zu Hause sitzt über einem Buch, an einem Text arbeitend oder nur verzweifelt, dass du es nicht mehr schaffst. Lesen und schreiben. Und ficken und essen. Das ist alles was du machen willst. Und das alles, dein Alles, dein All möchtest du gerne Liebe nennen dürfen, aber es geht nicht. Du hoffst: Es geht noch nicht. Und der Splitter? Er fragt: “Willst du mich? Dann vergiss die Liebe.” Und du bist fast schon nur noch Wirt für diesen Splitter und einzig die Hoffnung darauf, dass das alles noch zu Liebe werden kann lässt dich Handlungsmacht entwickeln, lässt dich Schmerz empfinden, lässt dich fühlen. Noch bist du am Leben und mehr du als einem Gefäß zusteht. Kann das so bleiben? Kannst du den Splitter aushalten? Reißt du dir den Splitter raus? Geht das? Überlebst du das? Oder kannst du doch all das vereinen? Kannst du doch? Kannst du noch?

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