An: Dich
Hallo du,
schon viel früher hätte ich dir antworten sollen. Selbstverständlich hat mich dein Brief, haben mich deine Briefe erreicht. Meine Briefe haben den umgekehrten Weg nicht mehr geschafft. Dies ist der Letzte Bote, der durch die Reihen meiner dornigen Verteidigung gebrochen ist und nun endlich etwas von mir berichten kann. Doch du wirst gleich sehen, dass seine Mission eine andere ist. Es tut mir sehr leid, dass es so viele Versuche gebraucht hat, bis einem meiner Texte die Flucht zu dir gelungen ist. Du wirst sicher wissen wollen wie es mir geht. Und ich will sagen, dass es gut geht. Will deine Frage ungerechterweise also umgehen, überspringen und stattdessen dich fragen: "Wie geht es dir?"
Wie gefällt dir der Ort an dem du bist? Trägt er zu deinem Glück bei, zu deinem Gefühl, eine Identität zu haben? Oder bist du ständig unterwegs und ist es diese Bewegung - fort von dem alten Ort, hin zum neuen Ort, sich orientieren und schon wieder auf dem Sprung sein - die dich dein Ich fühlen lässt? Oder gar etwas dazwischen, changierend zwischen ausharren und aufbrechen, vielleicht suchend, vielleicht gerade nicht suchend? Ich hoffe du kannst zumindest etwas angeben, Bedingungen für den Ort auf den du dein Leben beziehst. Als Ziel-, Flucht- oder Lebensmittelpunkt, möglicherweise als Punkt jenseits von allen und allem. Als Start- oder Schlusspunkt.
Ich hoffe du gehst unter Leute, oder lässt es bleiben. Ich hoffe, das ändert sich regelmäßig oder unregelmäßig. Wie sind die Menschen um dich? Benehmen sie sich angemessen und auch angemessen daneben? Gibt es da genug Stimulanz, genug Ruhe, genug von Zwischenmenschlichkeiten der Art wie du sie jetzt, kurz-, mittel-, langfristig und/oder rückwirkend brauchst? Ich wünsche dir es. Wünsche dir die überraschende Wärme und Kälte fremder und bekannter Körper, wünsche dir Sex, wünsche dir, dass du Liebe kennst, wenn du damit etwas anzufangen weißt, dass du sie finden mögest, wenn du nach ihr auf der Suche bist. Ich wünsche dir, dass du Freunde hast, die für dich einen Teil der Entscheidungen mitbestimmen können, wenn du ihnen diese Ehre und Bürde gewähren willst. Wie du siehst: Ich kann dir nichts abnehmen, kann weder die Ehre noch die Bürde auf mich nehmen. Ich kann dir nur wünschen, dass du für alles in deinem Leben Wünsche artikulieren kannst. Ausschweifend oder kurz. Tanzend? Es ist von dir abhängig.
Ich wünsche dir, wenn es dir gefällt, dass dir jemand Bilder mit dem Zeigefinger auf den nackten Rücken am Strand deiner Wahl malt. Und wenn du Melancholie schön findest, dass du dich selbst und allein, nicht einsam, im grüngraublau deiner liebsten Herbstlandschaft fast zu verlieren glaubst - nur um dich, um dein Ich, dann doch irgendwo ein Stück zurückzugewinnen. Ich wünsche dir konkrete Erfahrungen, von dieser Art. Erfahrungen von der Art, wie sie dich noch lange in Schwingungen versetzen können - könnten - und dir die Möglichkeit zu deiner Kreativität eröffnen, wie immer der Weg dorthin für dich konkret aussehen mag.
Ich möchte einen Ort, eine Identifikation, eine Umwelt für dich mitersehnen, doch fehlt mir der Zugang, die Möglichkeit dazu. Das heißt, du bist fürs Erste auf dich allein gestellt und ich bin, wie so oft, nicht sehr hilfreich. Diese eine Bitte sei mir jedoch noch gestattet: Nimm diesen Brief als Anlass, als Ausgangspunkt oder Bewegungsgrund, als Anstoß, zur Gelegenheit deinen eigenen Möglichkeitsraum als Wirklichkeitsraum zu gestalten. Du existierst, so viel ist sicher. Und klar bedeutet das "in Abhängigkeit zu so vielen und vielem, aus Gründen verschiedener historischer, biografischer und biologischer Begebenheiten genau hier und jetzt, so oder so". Doch bist du nicht vollständig determiniert, verdammt, verpflichtet, befähigt. Du bist kein Schienenfahrzeug, höchstens eingefahren. Und das heißt: Alles andere ist jetzt erstmal von dir abhängig, wenn du möchtest.
Liebe Grüße und auf bald!
Dein,
Ich.