Textrepo Hähnel
Dienstag, 2. Juni 2015

Ich, der Deutsche

Ich fahre durch die Stadt und mir laufen die Tränen über die Wangen. Ich höre die neue Episode, des normalerweise eher humorvollen Podcasts »Roderick on the Line«. Es geht um Deutschland aus der Sicht der USA und damit um mich und irgendetwas bebt in mir.

Ich fühle mich an meine Jugendzeit erinnert, damals im Speckgürtel von Berlin zwischen all denen, die ich auch heute noch meine Freunde nennen darf. Ich erinnere mich daran, wie es damals noch darum ging, einfach betrunken zu werden - aus keinem besonderen Grund. Und ich weiß wie wir uns abends manchmal trafen, im Keller bei einem meiner Freunde um ungestört zu trinken und Filme zu gucken, die so nebenher liefen. Aber diesen Abend war es anders, wir waren gebannt und angewidert und all das gleichzeitig in unseren pubertären hemmungslos besoffenen Schädeln. Wir schauten »Der Soldat James Ryan« und folgten im Verlauf der Geschichte einer Gruppe US-amerikanischer Soldaten, die einen ihrer Männer hinter feindlichen Linien retten sollten. Was aber den größten Eindruck auf mich machte, weil es den Wahnsinn dieses ganzen Geschehens für mich zum ersten Mal einfing, war die berühmt gewordene Szene der Landung der Truppen am D-Day in der Normandie. Ich bin ein sehr sensibler Mensch, das war ich schon immer. Ich bin schnell berührt und kann mich von meinen Gefühlen in die höchsten Höhen tragen lassen und in den dunkelsten Stunden umgreift mich der Weltschmerz mit seiner harten, kalten Klaue. Ich bin in dieser Hinsicht exzentrisch, ich neige zum pathetischen, doch passiert es mir selten, dass ich so ergriffen war wie an diesem Abend.

Ich kann nicht für meine Freunde sprechen, nichts liegt mir ferner, aber was mich betrifft bestand der Rest des Films nur noch darin die Tränen mehr ungeschickt als wirklich gekonnt hinter Sechs oder Acht schnell in mich gekippten Bieren zu kaschieren und dann nur schnell weg - Weg! - von dem was mich an einer Stelle berührt hatte, die so ungeschützt und empfindlich war, wie ein offen liegender Nerv. Der normalerweise zwanzig Minuten dauernde Heimweg auf dem Fahrrad damals dauerte nicht nur wegen meiner Betrunkenheit zwei Stunden. Ich weinte. Ich weinte ob all der Schandtaten, die passierten, all der Ungerechtigkeiten, die passiert sind. All die Toten, all die unnütze Gewalt. Aber ich weinte nicht, wegen der Sache an sich, sondern ich weinte weil ich mich schämte.

Dabei muss hier eingeschoben werden, dass ich mich nie mit sonderlich konservativen oder nationalistischen Menschen umgab, im Gegenteil. Außerdem war ich in der DDR geboren und das war doch Neues Deutschland - oder nicht? Wir redeten damals oft (wir waren dumme viel zu oft viel zu betrunkene Jungen) über Revolutionen, was wir machen würden und so weiter. Wir meißelten uns ein Weltbild aus der uns umgebenden Umwelt und waren im Selbstverständnis zumindest nicht »deutsch«, das war zumindest mein Gefühl. Wir waren vielleicht antideutsch (auch wenn wir das Wort nicht kannten und es wohl, hätten wir es gekannt, nicht genutzt hätten) oder wir dachten, dass Nationalität keine Rolle spielte - oder zumindest nicht spielen sollte, vieles war ja noch im Konjunktiv - so wie wir selbst.

Und dann ist da plötzlich dieses Gefühl sich als Deutscher tief beschämt zu fühlen, dass es kaum aushaltbar ist. Die Unmenschlichkeit mit der »unsere« oder »meine« Leute hier vorgingen, war ein zu komplexes Gefühl für mich (ich bekam es ja nicht mal hin, den Arsch in der Hose zu haben Mädchen anzusprechen). Ich ahnte damals schon, dass die Wirklichkeit sogar noch viel schwieriger war, aber das hier war grundlegend genug. Die ganze Ambivalenz meiner Person kam im Querschnitt dieses Gedanken an Deutschland, den Zweiten Weltkrieg und den Deutschen (alle um mich herum sprechen Deutsch, ich spreche Deutsch, die »Bösen« in diesem Film und in der Geschichte sprechen Deutsch!) zum tragen. Mein gesamtes unfertiges Ich sah sich mit einem Problem konfrontiert, das es nicht zu bewältigen im Stande war.

Vielleicht wäre es gut gewesen, diese Sache (wie so vieles) nicht so ernst zu nehmen, vielleicht wäre ich ein anderer, mit Sicherheit. Aber stattdessen weinte ich die dicksten Tränen die ich je geweint hatte und floh auf meinem Fahrrad durch die Nacht, Bergauf und Bergab, die Straße hoch und eine andere wieder herunter, als könnte der Fahrtwind trocknen und wegwischen, was schlicht und ergreifend ein Gefühl war, welches stechend in meinem besoffenen Gehirn sich einnistete und blieb.

Es ist wie ein hässliches Muttermal, oder die Narben von selbst zugeführten Wunden: Man kann sich zu diesen Dingen immer nur verhalten. Sie werden nicht Teil von uns, sondern stehen für uns. Jede Besonderheit hebt uns heraus, ändert was andere von uns halten - jedenfalls glauben viele von uns das (und vielleicht wird es gerade dadurch auch ein bisschen wahr). Und so war es mit diesem meinem Gefühl, für das ich in all diesen Jahren keinen Namen fand, weil ich Angst hatte davor (»Ich bin kein Nationalist!« »Ich schäme mich so für uns!«). Die Folge dessen war, dass ich es mir in der Vergangenheit oft versagte ein wie auch immer geartetes Gefühl zu haben, wenn ich den Eindruck gewann, dass ich mich auf dünnem Eis bewegte (dreimal dürft ihr raten, wie gut das funktionierte). Ich verpflichtete mich außerdem zu absoluter Gewaltfreiheit in allem was ich tat (eine ähnlich bekloppte Idee). Ich wurde kein Experte zu Fragen des Zweiten Weltkrieges oder zum Pazifismus (oder zur Politik) oder was auch immer, weil ich wusste, dass ich damit nicht würde umgehen können und weil ich vom Herzen heraus verstand, wenn etwas falsch war. Von der Muse der Intuition in dieser Weise geküsst worden zu sein, das ist nicht immer einfach. Insbesondere, wenn man mehr mit dem Herzen sieht als mit dem Kopf. In dieser Weise rannte mein Hirn meinem Herz stets hinterher, wurde Bückling und Türsteher zu gleich, und verstopfte den Zugang zur Kernschmelze meiner Seele.

Ich habe sehr viel Zeit meiner Jugend damit verbracht weg von mir zu bleiben, mich mit allem zu beschäftigen, nur nicht mit mir selbst, diesem hochkomplizierten Labyrinth, dass ich als Behausung nutze. Von meiner Seele ganz zu schweigen. »Wer bin ich eigentlich?« - das stand ständig auf der Tagesordnung und doch niemals.

Es ist besser geworden, wie alles besser wird und ausgewaschener. Erinnerungen bröseln unter dem Mühlstein der Zeit, länger zurückliegende Emotionen verlieren ihre Farbe im Verlauf des Lebens. Neues kommt und überlagert Altes, das ist der Lauf der Dinge, wie man dann sagt. Ich habe über die Zeit natürlich an Perspektive gewonnen und für mich daraus abgeleitet es »richtig« machen zu wollen, auch wenn es schwer ist und man nicht immer gleich weiß, was das bedeutet.

Manche Sachen bleiben. Und all dies, jagt mir durch den Kopf auf meinem Weg von zu Hause zur Bibliothek. Ich studiere jetzt Geschichte, ich bin ein anderer als gestern, ich bin anders als vor 10 Jahren und auch morgen werde ich wieder ein anderer sein. Ich bin - wie ich gerne sage »Auf dem Weg«. Dieses Echo an eine Begebenheit, die mich bis heute prägte, mein bisher verschüttet geglaubter Zugang zum Kern, zum Schmelztiegel, der so viel heißer brennt, als der von vielen, ich lege ihn wieder frei.

Ich lege ihn tatsächlich frei! Und mir blitzt auf den letzten Metern doch noch ein kleines Lächeln über die Lippen. Dieses letzte halbe Jahr grub ich mich immer tiefer in mich, in meinen Gedankenbruch, machte Licht in längst vergessenen Tunneln und verschaffe mir in mir selbst eine erste Orientierung. Das dauert. Es ist Arbeit, aber dieses kleinen Beben heute macht mich glauben, dass ich den Durchbruch schaffen kann. Irgendetwas glüht hinter dieser Wand und ich werde mir Zugang verschaffen.

Hier habe ich exklusives Schürfrecht.

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